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Süddeutsche Zeitung - 28.November 1972  


Phantomkino   


"Nachtschatten" von Niklaus Schilling   


     Schillings "Nachtschatten" fängt an, wie Straubs "Bräutigam", den Schilling fotografiert hat, aufhört - mit einem langen Blick in einen Baum, dessen Blätter der Wind bewegt. Aufschlußreicher als die Ähnlichkeit der Bilder ist aber die Verschiedenheit ihrer Funktion. Bei Straub: Zum Schluß eines Schwenks nach oben, ins Freie, kommt der Blick zur Ruhe. Bei Schilling: Das Flirren der Blätter löst die gegenläufige Bewegung aus, abwärts. So beginnen Geschichten. Diese endet, mit einer letzten Bewegung nach unten, indem ein Mann versinkt im Moor. Langsam bricht er ein, sinkt, immer tiefer, bis die Decke sich wieder schließt über ihm. Wie es dem Zuhörer geht vor solchen Geschichten.   

     Aber Schilling erzählt seine Geschichte nicht, er erzählt das Erzählen. Die Natur ist die erzählte Natur von tausend bekannten Geschichten; das Licht hat immer einer eingeschaltet. Man spürt die Hand am Schalter. Nicht die des allmächtigen Autors, sondern die der erzählerischen Ökonomie, der er gehorcht.   

     Ein Phantomfilm, der schönste, der in Deutschland gemacht worden ist seit Murnau. Ein Mann kommt in die Heide, begegnet einem Haus, einer Frau, einem Geheimnis. Um ihn herum gewinnt alles eine widrige, befremdliche Selbstverständ-lichkeit. Von vornherein sieht sich der Gast von der Frau behandelt wie ein alter Bekannter, den er allmählich identifiziert: es ist ihr Mann, der abwesend ist, tot ist, vielleicht von ihr ermordet. Hat einst die Frau dem anderen, seinem Doppelgänger, den Tod gebracht, so bringt jetzt er, der Doppelgänger des Toten, ihr den Tod.   

     Nichts und keiner ist da durchaus mit sich identisch, jedes ist Double eines anderen, von dem ein ironisches Echo zurückschallt. (Der Film ist komisch, wenn auch anders, als die fixen Lacher das meinen, wenn sie ihn auf einem "Klischee", einer "kitschigen Stelle" ertappt zu haben glauben.) Man muß nicht einmal wissen, daß das Heidegehöft, die "Seele" des Films, von seinem reichen Besitzer verpflanzt worden ist, Stein für Stein aus dem Nachbardorf hierher versetzt. Daß da etwas nicht stimmt, läßt schon der ungarische Ziehbrunnen daneben erkennen. Und man hört die Stimme des wirklichen Besitzers, wenn Jan Eckmann, der Besucher, der gekommen ist, um zu kaufen, sagt: "Liegt gut!" Weil der Hof nicht mehr funktioniert. Er taugt nur noch für Postkarten (es gibt tatsächlich eine davon, betextet "Altes Bauernhaus") und für solche Sätze, in denen sich Käuferhaltung kundtut.   

     Wo ist denn die Landschaft, fragt Elena und meint ein Bild. Mohnblumen, "echte", sehen aus wie künstliche, aber die auf Elenas Kleid aufgedruckten beleben sich auf ihrem Körper. Dessen Haut wiederum aussieht wie gelackt, opalen glänzend. Zwei Mercedes kommen vor in dem Film, der weiße von Jan Eckmann und der schwarze, der im Stall steht, unter einer Plastikhaube, und mit dem sich Elena und ihr Mann am Hochzeitstag fotografieren ließen. Zwei Exemplare der Zeitung mit einem Bericht von Elenas Mordprozeß spielen eine Rolle - eins verbrennt sie nachdrücklich (überhaupt veranstaltet sie unentwegt Autodafés), als werde damit Unwiederbringliches für immer zerstört. Zweimal gießt Eckmann Wermut ins Feuer, zweimal sagt er: Das hätte ich wissen müssen. Zwei Zimmer im Haus sind gleich; eins ist verschlossen geblieben; als Elena es öffnet, ist es für Eckmann wie ein déjá vu. Der Film ist voll davon.   

     Diese Doppelgängergeschichte ist so gefilmt, daß man ständig daran erinnert wird, daß auch der Film ein Doppelgänger ist, der Realität. Doppelgänger gelten als Todesboten. Filmen heißt, sagt Cocteau, dem Tod bei der Arbeit zuschauen.   

     Jan Eckmann sieht seinen Doppelgänger zuerst auf dem Hochzeitsfoto mit Mercedes in dem verschlossenen Zimmer. Eins von vielen Fotos, die in dem Film vorkommen und die alle ohne Ausnahme keine harmlose, verläßliche Darstellung der Realität bieten, sondern sich von ihr ablösen. Auf einem hat das Gegenlicht aus Elena einen dunklen, geisterhaften Schemen gemacht. Ein anderes ist doppelt belichtet, Elena und Jan bilden darauf ein zwittriges Doppelwesen. Ein Zeitungsfoto vom Moor, wo Elenas Mann verschwunden ist, ist der Vorbote desselben Motivs, das als "reales" wiederkehrt, wenn man Werner Berg versinken sieht, später, als Elena Jan die Geschichte erzählt. Mit derselben Bewegung geht die Kamera erst über das Zeitungsfoto und dann über das reale Motiv.   

     Daß Fotografie nicht neutrale Vermittlung ist, sondern eine spezifische, folgenschwere Veränderung bedeutet, läßt "Nachtschatten" auch dadurch spüren, wie er selbst fotografiert ist. Sie kennen den Effekt, der sich ungewollt einstellt, wenn ein Film von 35 auf 16 mm umkopiert worden ist und das grobe Korn die filmischen Illusionstechniken zunichte macht. Mit diesem Effekt arbeitet "Nachtschatten". Durch die Gradation des Schmalfilms werden die elegant-bestimmten Bewegungen und die schönen artifiziellen Farben zum Zitat.   

     Die Einstellungen sind wie aus- und abgeschnitten, aber nicht so, als setze sich das, was man sieht, natürlich fort über den Bildrand und den Schnitt hinaus. Was draußen bleibt, ist anders. Der Film spiegelt keine Welt, bildet keine nach, schafft kein Modell. Als Echo, als Schatten, als fixierter Reflex reichen die Dinge aus dem "Off" ins Bild-Ton-Geschehen hinein, imprägnieren sie das Zelluloid.   

     Außen und innen ausgewechselt. Elenas Haut empfängt von innen keine Wärme. Sie liebt warmen Stoff auf ihrem Körper. Sie lebt als Reflex, so wie fürs Auge die Dinge erst Gestalt annehmen, wenn das Licht sie berührt.   

     Nach demselben Prinzip der verkehrten Seiten funktioniert auch der Dialog. Keine Frage, die nicht Antwort, keine Rede, die nicht Gegenrede ist und so dem, was dann noch als Antwort, als Aussage, Bedeutung, originaler Sinn daherkommt, von vornherein die Luft abläßt. Symmetrie, die nichts Einmaliges, Unverwechselbares zuläßt. Die Reproduktion hat das Original immer schon eingeholt, ist ihm vorausgeeilt, hat ihm seine Aura geraubt.

                      

ENNO PATALAS  

Nachtschatten


Neue Zürcher Zeitung 26.3.87:


Grenzgänger - Grenzverletzer

Ein deutscher Filmemacher aus der

Schweiz


Anmerkungen zu Niklaus Schilling


     dlw. Eine Affinität zur Bundesrepublik habe er schon immer empfunden, sagt Niklaus Schilling, der 1965 nach München ging und seither dort lebt und arbeitet. Für den Entschluß mögen damals biografische Hintergründe mitgespielt haben - Schillings Großvater wanderte vom Schwarzwald in die Schweiz ein -, die Nähe Basels, wo Schilling "grenzüberschreitend" - wie er sagt - aufwuchs, ein schon in der frühen Jugend gewecktes Interesse für die abgründige deutsche Geschichte und ihre Geschichten, Begegnungen, wie die Bekanntschaft mit dem Wahlmünchner Filmemacher Vlado Kristl. Nach ersten frühen Filmversuchen in 8-mm war für Schilling ausschlaggebend, der nach einer Dekorateurlehre erste professionelle Erfahrungen mit dem Medium bei Werbeproduktionen in Zürich sammeln konnte, daß in München eine Filmszene existierte, der beginnende "neue deutsche Film" Arbeitsmöglichkeiten bot, die in der Schweiz, wo es noch nichts Vergleichbares gab, fehlten. Als Kameramann arbeitete Schilling denn auch bald mit Mitgliedern der sogenannten "Münchner Gruppe" zusammen (Lemke, Thome, Zihlmann, Spils und Straub), bevor er 1971 "Nachtschatten", seinen ersten langen Spielfilm realisierte. Wie alle seine folgenden Spielfilme wurde er von der "Visual Film" produziert, mit deren Leiterin Elke Haltaufderheide Schilling seit 1968 zusammenarbeitet.


Der Realität Deutschlands verpflichtete Filme


     Von Anbeginn weg drehte Schilling "deutsche" Filme insofern, als sie Themen aufgriffen, die den Lebensbedingungen und dem geographischen Raum, der Vergangenheit und der Gegenwart dieser Republik verpflichtet sind. Das gilt für seinen in der Lüneburger Heide angesiedelten Erstling "Nachtschatten", der sich mit der Thematik des deutschen Heimatfilms auseinandersetzt, und ebenso für "Die "Vertreibung aus dem Paradies" (1976), wo ein nach Italien ausgewanderter erfolgloser Schauspieler in seine Vaterstadt München zurückkehrt und dort lauter Enttäuschungen erlebt, bis Schilling ihm endlich den kinohaft glücklichen Zufall gönnt, es zeigt sich im mit dem Ophüls-Preis ausgezeichneten "Der Willi-Busch-Report" (1979), der den an der Nahtstelle zweier Systeme - der Bundesrepublik und der DDR - lebenden Lokalreporter ins Zentrum stellt, wie in "Der Westen leuchtet!" (1982), einer Spionagegeschichte, deren Hauptfigur, ein DDR-Agent, im "leuchtenden Westen" arbeitet; und nicht zuletzt bildet deutsche Realität mehr als nur den Hintergrund in "Rheingold" (1977), der eine Eisenbahnfahrt durch Deutschland bis über die Schweizer Grenze, nach Basel erzählt. - Dieser Film gab unlängst zu reden, als er im Zuge einer nicht zuletzt von Franz Josef Strauss geforderten Überprüfung der auswärtigen deutschen Kulturpolitik mit Werken unter anderem von Rainer Werner Fassbinder für gewisse Länder aus dem Verleih des Goethe-Instituts genommen werden sollte. Erst auf empörte Proteste hin wurde die unrühmliche Maßnahme vorerst rückgängig gemacht.


     Irgendwelchen Strömungen und Tendenzen innerhalb des aktuellen deutschen Filmschaffens ist Niklaus Schilling jedoch nicht wirklich zuzurechnen. Zu vielfältig und eigenwillig wirken seine Filme, die Melodram und Satire, Phantastik, Realismus und verschiedene Genres gekonnt ineinander übergehen lassen; zu unverwechselbar tragen sie die Handschrift ihres Autors, als daß sie sich widerstandslos in eine Tradition einbetten ließen. Schilling ist ein Grenzgänger - ein Grenzverletzter, der schon früh in Basel gelernt hat Grenzen zu überschreiten. Die nonkonformistische Art, mit der Schilling seine Vorstellungen und Ideen realisiert, hat natürlich auch ihren Preis: Mit "Nachtschatten", dessen Vertrieb er selbst übernahm, reiste er seinerzeit durch das ganze Land, gleichsam "auf der Suche nach dem Publikum", wie er sagt - bis er einen Verleih fand. Der zweite lange Spielfilm ließ auf sich warten. Drehbücher entstanden, eine Branche wurde kennengelernt, er arbeitete weiter auf das Ziel hin, das er sich als Filmemacher von Anfang an vorgenommen hatte: Eine emotionale, sinnliche Form des Erzählens zu finden und weiter zu entwickeln, die gleichzeitig dem Anspruch Rechnung trägt, daß Unterhaltung auch "eine Beschäftigung des Kopfes" sein sollte.


Chemie oder Elektronik - Verrat oder Innovation?


     Umstritten, von den einen als mutiger Schritt gefeiert, von den anderen als Verrat am Kino geschmäht, war und ist Schillings anhaltende Beschäftigung mit dem elektronischen Kino, die zu Beginn der achtziger Jahre einsetzte. Das erste Resultat dieser Auseinandersetzung, "Zeichen & Wunder" (1981), entstand, in dem Schilling gewissermaßen aus der Not ("Der Westen leuchtet!" mußte wegen Finanzierungsschwierigkeiten verschoben werden) eine Tugend machte und sich anschickte in einer unaufwendigen Produktion - er verwendete eine gängige 1/2-Zoll-VHS-Amateurausrüstung und kopierte das Material nachträglich auf 16-mm-Film - die Möglichkeiten des elektronischen Mediums zu erproben. Entstanden ist dabei ein witziger, verspielter Experimentalfilm, der - ausgehend von der Grundidee, das Europäische Patentamt in München beginne eines Tages, auf unerklärliche Weise Energie in Form von Licht und Hitze auszustrahlen - nicht nur eine brillante Satire auf die Fernsehberichterstattung darstellt, sondern auch konsequent das technische und kreative Potential der magnetischen Bildaufzeichnung bis an seine Grenzen und darüberhinaus ausschöpft, trotzdem, oder gerade deswegen, wagte es der Bayerische Rundfunk diese "anhaltende Bildstörung" auszustrahlen. Schillings übernächster Film dann ("Der Westen leuchtet!" wurde inzwischen realisiert) "Die Frau ohne Körper und der Projektionist" (1983), war ein professioneller elektronischer Film für das Kino (der fertige Film wurde in den USA in einem aufwendigen Verfahren auf 35-mm-Film umkopiert) - der erste Film dieser Art in Deutschland. Optimale Arbeitsmöglichkeiten garantierte der Umstand, daß der Privatsender RTL (Radio-Télé-Luxembourg), der offensichtlich Interesse an den Erfahrungen eines Kinoregisseurs mit dem Magnetband hatte, Schilling innerhalb einer Coproduktion eine 1-Zoll-MAZ-Ausrüstung für drei Monate zur Verfügung stellte - was dem Regisseur die Gelegenheit gab, ohne Zeitdruck von den videospezifischen Produktionsmöglichkeiten zu profitieren. Ausgehend nur von einem knappen Exposé wurde der Film ohne Drehbuch, Schritt für Schritt in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielern entwickelt. Diese "reflektierende Arbeitsweise", wie Schilling sie nennt, bietet sich natürlich beim elektronischen Bildermachen an, weil alle Beteiligten ihre Arbeit stets am Bildschirm überprüfen können, was zu einer permanenten Diskussion der Resultate führt - wobei Schilling im Rückblick die Erfahrung hochschätzt, als Regisseur nicht einfach eine fraglos akzeptierte Autorität, sondern gewissermaßen der demokratischen Kontrolle seiner Mitarbeiter ausgesetzt gewesen zu sein - in wirklicher Teamarbeit.
     Nicht zufällig, denn in allen seinen Filmen reflektiert Schilling auch - oft (selbst)ironisch gebrochen - über das Medium, in dem er sich ausdrückt, erzählt "Die Frau ohne Körper und der Projektionist" die Liebesgeschichte zwischen dem Filmvorführer eines von der Schließung bedrohten Kinos und der "Telefrau des Jahres", einer berühmten Fernsehmoderatorin. Auf einer übergeordneten Ebene spiegelt sich in dieser Beziehung auch das Spannungsverhältnis zwischen den Medien, deren Beziehung schließlich - die beiden Protagonisten verschwinden spurlos - eine offene Frage bleibt.


Die Perspektive des elektronischen Bildes

    

     Die hoffnungsvolle Zuversicht, mit der Schilling damals den "Abschied vom Zelluloid", die Hinwendung zum Magnetband als "Beginn einer Eroberung" proklamierte - 1984 drehte er mit "Dormire" - ein weiteren Videofilm, der komplett in einem zum rollenden MAZ-Studio umgebauten Schlafwagen aufgezeichnet wurde - zwischen Hamburg und München (Allerdings wurde dabei bewußt auf die teure Umkopierung verzichtet - vor der Fernsehausstrahlung ist er in einigen Kinos der Bundesrepublik direkt vom 1-Zoll-Band auf Großprojektion gezeigt worden), ist heute einer eher nüchternen Einschätzung gewichen, ohne daß er seine Position grundsätzlich revidieren würde. Nach wie vor betont Schilling die Notwendigkeit, daß Filmemacher sich den neuen Entwicklungen in der sich verändernden Medienlandschaft stellen, ihre Ansprüche anmelden, ihre Präsenz behaupten. Denn das Kino als Institution im traditionellen Sinn, das als Gegenwelt eine wichtige identitätsbildende Funktion auch für Schilling erfüllte, der sich an den prägenden Einfluß erinnert, den die Entdeckung der "Nouvelle Vague", des italienischen Films, Bunuels und Howard Hawks auf ihn hatten - dieses Kino betrachtet er als verloren. Das herkömmliche Kino ist nur noch Teil eines weltweiten Bildervertriebs. Seine spezifischen Formen müssen - so sieht es Schilling - kämpferisch weiterentwickelt werden - bevor wir überholt werden, von einem Konzentrationsprozeß, der auf die Anziehungskraft einiger weniger Großproduktionen setzt (deren Fernseh- und Videoauswertung Hauptbestandteil der Vermarktungsstrategie bildet). Nach seiner Meinung kann das Kino nur überleben, wenn es sich wieder subversiverer Produktionsweisen erinnert - die Bilder neu erobert, im "Bildersalat", der ständig angerichtet wird. Immer noch stößt aber die künstlerisch ambitionierte Arbeit mit der magnetischen Bildaufzeichnung auf Vorurteile, die, so Schilling, weitgehend darauf zurückzuführen seien, daß einerseits das Fernsehen Video nach wie vor zu anspruchslos und unreflektiert einsetze, daß andererseits, im Videoclip etwa, die technischen Spielereien und Tricks, die diese Technik möglich macht bis zum Exzeß und damit bis zur Bedeutungslosigkeit strapaziert würden. Umso mehr hält Schilling es für dringlich, eben Alternativen im Umgang mit diesem Medium zu erproben, das es nicht nur erlaubt, im Kino ein anderes Publikum zu erreichen, sondern auch am Fernseher. Und in der Produktion überschaubare "Handwerksbetriebe" schafft neben den industriellen Fertigungsstätten - neue Wege eröffnet - ein Aspekt, auf den auch Jean-Luc Godard hinwies, der früher schon mit der Elektronik experimentierte. Schilling ist allerdings kein blauäugiger Idealist. Er gibt sich keinen Illusionen darüber hin, daß Modelle, die er für wünschbar und praktikabel hält - etwa die offenen weitgehend selbstverwalteten Bürgerkanäle - die in New York und zum Beispiel in Dortmund in der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt wurden -, durch massive kommerzielle und politische Interessen gefährdet sind. Schillings Skepsis gründet auch auf der Erfahrung, daß sich andere Filmemacher bisher kaum auf diesem Felde engagieren. In Alexander Kluge, sieht er einen der wenigen, der die Herausforderung der neuen Technik ernsthaft angenommen hat und mit einer sogenannten Medienwerkstatt neue Programme produziert - indem er erkannt hat, daß er mit dieser Technologie unseren von der Elektronik geprägten Realitäten näher kommen kann.


Ein neues Projekt und "Unter 4 Augen"


  Wenn nun Niklaus Schilling seinen nächsten Film (Die Dreharbeiten sind für diesen Sommer geplant) wieder auf Zelluloid dreht, geschieht dies aus ökonomischen, aber auch technischen Gründen. Die professionelle Videotechnik steht vor einem weiteren Durchbruch, wenn nämlich das neue High-Defintion-System (eben wurde von der RAI ein großangelegtes Spielfilmprojekt auf HDTV realisiert), allgemeiner zur Verfügung steht und damit "berechenbarer" werden kann. Allerdings ist für wesentliche Teile des neuen Projekts, das auf der Kurzgeschichte "Layout für ein Gesicht" von Herbert W. Franke basiert, auch die Verwendung von Video und computergenerierten Bildern vorgesehen. Einmal mehr wird Schilling innovative Technik zur Erweiterung der Bildsprache, der künstlerischen Möglichkeiten des Mediums einsetzen; und einmal mehr wird dieser Film nicht nur eine spannende Geschichte erzählen, sondern sich auch mit der Frage beschäftigen, was denn die Wirklichkeit sei - die wirkliche und die bildliche, und was die beiden trennt und verbindet. Wie intensiv und anregend sich Schilling mit dem Problem der Wahrnehmung auseinandersetzt, wird auch aus der Dokumentation "Unter 4 Augen" (1986) ersichtlich, die die ARD am 31.März ausstrahlt. Darin versucht Niklaus Schilling eine Annäherung an die Arbeit seines Bruders Alfons, der während der letzten 25 Jahre als bildender Künstler in New York tätig war. Vor dem Entstehen des Bildes sich erst einmal mit dem Vorgang des Sehens beschäftigend, begann Alfons Schilling Sehapparaturen zu konstruieren, die die Konventionen der Wahrnehmung aufbrechen, die neue Sehweisen und damit unbekannte Realitäten erschließen. - Atemberaubende visuelle Experimente sind so entstanden, die filmisch festzuhalten wohl keiner so prädestiniert war wie Niklaus Schilling.


"Willi Busch for President!"     


Vom Ende der westlichen Welt und dem Mantel der Geschichte     


     "Es war sehr kalt, damals im Frühjahr 1979. Wir standen wieder einmal vor dem unüberwindlichen, 1378 Kilometer langen, monumentalen Bauwerk der deutsch-deutschen Grenze. Auf der westlichen Seite mein Filmteam und auf der anderen Seite die Soldaten der DDR-Grenztruppen. Unablässig beobachteten wir uns durch unsere Ferngläser. Und wunderten uns. Wir drehten die letzte Szene des "Willi-Busch-Report": Nicht zuletzt auch angesichts der Grenze erleidet Willi einen Kreislaufkollaps und wird ohnmächtig. Ein letztes Mal verletzt er dabei ein Tabu - die Grenze. Im Sturz fällt sein Kopf über die Demarkationslinie auf das Staatsgebiet der DDR - und gleichzeitig in den "Ostblock", das andere, feindliche Weltsystem! Über unseren Köpfen kreist dazu ein westlicher Hubschrauber, knapp an der imaginären Luftraumgrenze. Wir hatten Angst.   

10 Jahre später - am 18.November 1989 - stand ich an der exakt gleichen Stelle und plauderte auf dem sogenannten Todesstreifen völlig entspannt mit einigen Grenzsoldaten über die Vergangenheit und die Zukunft der beiden deutschen Staaten. Was machen wir nun damit? Jedenfalls wurde bereits heftig Erdreich bewegt, ein provisorischer Übergang geschaffen. Die Fahrzeuge kamen - noch - sowohl aus dem Osten wie aus dem Westen. Währenddessen halfen mir die Soldaten dabei, zusammen mit neugierigen DDR-Bürgern, die erste öffentliche Vorführung des "Willi-Busch-Report" in der Deutschen Demokratischen Republik zu organisieren - und das sogar im "Grenzsperrgebiet"! Und über die Lautsprecher des "Stadtfunks" wurde diese seltsame Veranstaltung auch noch angekündigt! Unglaublich! Jedenfalls sah es ganz danach aus, als wollte die Historie eine Fortsetzung des Films von 1979 bewirken. Wir wehrten uns dagegen nur noch kurz. Immer deutlicher wurde der merkwürdig ambivalente Zustand von einem positiven Krankheitsbild abgelöst: Bald hatte es alle erwischt. DEUTSCHFIEBER - die einzig wahre und einzige Fortsetzung des "Willi-Busch-Report!"   

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Taucherkrankheit oder

Höhenrausch - Was ist bloß mit den Deutschen los?    

  

     Inzwischen gibt es Stimmen, die den damaligen Zustand vieler Menschen gerade in den deutsch-deutschen Grenz-Regionen mit jenem Gefühl in Beziehung bringen, welches die Medizin als Höhenrausch definiert. Die Wirkung ist ganz unterschiedlich. Wo es einerseits zu ausgesprochenen Glücksmomenten führt, kann es andererseits ebenso schnell zu einem lebensbedrohlichen Notfall kommen: Der oder die Betroffene muß umgehend ins Tal verbracht werden. Inwieweit bei einem solchen Krankheitsbild darüberhinausgehende therapeutische Maßnahmen angezeigt sind, ist in jedem Einzelfall sorgfältig abzuklären. Jedenfalls hatte mit dem 3.Oktober 1990 eine völlig neue Phase begonnen: Der Staat DDR ist von der Weltkarte verschwunden. Seine Bürger sind über Nacht zu Bundesrepublikanern geworden.    

(Ansonsten lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!)

   

(Produktion)




Deutschfieber


Abschied vom Zelluloid?  

Leserbrief eines Kinogängers  

  

 

DIE ZEIT - Nr. 5 - 27.Januar 1984  

Fernseh-Vorschau   


Das Kino ist tot   


ARD, 29. Januar. 22.25 Uhr: "Abschied vom Zelluloid".   

Ein Film von Christian Bauer und Jörg Bundschuh   


    "Irgendwann geht einem das Licht auf, daß es wurscht ist, auf was die Bilder aufgenommen werden." Dieser wurschtig formulierte Satz stammt von dem Filmregisseur Niklaus Schilling, und er enthält eine tatsächlich revolutionäre Feststellung: Das Zeitalter des Zelluloids ist zu  Ende. Video kommt. Der langsame Tod des Kinos findet zwar schon seit geraumer Zeit statt, aber daß Filmregisseure, anstatt ihn aufzuhalten, sich zum Leichenbestatter machen, daß ausgerechnet Schilling, der ein großer Ästhet und Liebhaber des alten Kinos war (etwa in seinem Film "Die Vertreibung aus dem Paradies", 1977), das Ende vom Lied singt, scheint fast ein Fall für einen Nachruf. Schilling (und das ist Thema dieses Berichtes von Christian Bauer und Jörg Bundschuh) dreht seinen neuen Film "Die Frau ohne Körper" nicht mit herkömmlichen Filmkameras und auf Zelluloid, sondern er nutzt die neuen elektronischen Möglichkeiten, verwendet Videokamera, Monitor und Magnetbänder und läßt am Ende den Film, zum Zweck der Kinovorführung auf Zelluloid im Format 35 mm umkopieren.   

     Das Ergebnis kann dieser Fernsehfilm natürlich nicht zeigen: Fernsehen bleibt Fernsehen. gestreiftes Geflimmer. Schilling zeigte sich sehr zufrieden, überrascht von der Bildqualität, und prophezeite, irgendwann werde man die Brillanz eines 70-mm-Films erreichen. Die Vorzüge des Magnetband-Verfahrens liegen auf der Hand: Eine Stunde Zelluloidfilm kostet zehntausend Mark, eine Stunde Video dreihundert. Der Regisseur kann also beliebig oft eine Szene wiederholen lassen, und er kann, zusammen mit den Schauspielern. sofort auf dem Monitor die eben gedrehte Szene überprüfen, eine Möglichkeit, die den Perfektionisten Schilling begeistert. Das Zelluloid sei auf dem Sterbebett, sagt er, es habe nichts technisch Innovatives mehr. Sein Bedauern über das Ende des alten Kinos hält sich in Grenzen, so sehr fasziniert ihn das neue Medium.  

     Der Film von Bauer und Bundschuh allerdings verkauft seine Botschaft schlecht. Er will alles und folglich zuviel: einerseits Bericht über die Dreharbeiten, andererseits Darstellung des technischen Sachverhalts. und jeder dieser Aspekte kommt zu kurz. So richtet sich dieser Film vor allem an jene Insider, die wissen, was "35 mm" heißt, die Schillings Filme kennen und die mit den Worten "meine alte Arri" etwas anfangen können. Didaktisch ist er mißglückt, und das ist schade: denn der Tod des Kinos, verkündet von einem seiner alten Fans, ist schon ein Ereignis.  

  

Ulrich Greiner

  

   













   

  

VISUALFilm - Texte 1


   DIE ZEIT - Nr. 7 - 10.Februar 1984  


     Lieber Herr Greiner!   


     Leserbriefe sind eigentlich nicht meine Art. Film-Entwürfe liegen mir mehr. Aber Ihr ZEIT-Text vom 27.1.84 über "Abschied vom Zelluloid" bringt mich zu einer Entgegnung:   

     Erst mal erschrecke ich - wieder einmal - wenn ich lese: "Das Kino ist tot". Gut, das kann Ihre Meinung sein. Haben Sie aber deswegen auch den zweiten Teil des Titels meines Films einfach fallen lassen? Er heißt DIE FRAU OHNE KÖRPER UND DER PROJEKTIONIST.  


     Einigen wir uns darauf, daß es weitaus stärkere Phasen hatte, oder stellen wir wenigstens fest, daß das "Kino" als Ort, als Treffpunkt für Obsessionen, Träume und was weiß ich, leider kaum mehr existiert. Es ist nur noch Teil eines weltweiten Bilder- und Geschichtenvertriebs. Als Institution, die fast religiösen Charakter hatte, existiert es nicht mehr. Und warum? Sind es die Chips, ist es die Elektronik, die es immer weiter noch verdrängen? Ich denke, daß wir es auch sind, die wir nicht kämpferisch genug seine spezifischen Formen weiterentwickelt haben (und nicht nur die industriellen!). Aber was sind das für Formen? Muß es ein Remake eines Films der schwarzen Serie sein, oder ein Schiff über einen Berg oder ein Boot ins Wasser gebracht werden? Und ist die Herstellungsweise eines chemischen Films nicht ein Anachronismus: am Fließband werden pro Sekunde 24 Bilder produziert. Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts übrigens (aus der Gründerzeit). Und wann kann ich auch handwerklich adäquat heute noch die Produkte aus diesen Herstellungsprozessen sachgerecht betrachten? (Wann reklamiert man das unscharfe Bild, den Ton, die schlechte Kopie?) Wir sind Opfer geworden einer Ware, die - auch gefördert - nach den Gesetzen des sog. Marktes funktioniert. (Warum gibt es so viele Supermärkte? Weil es mal so viele Kinos gab?)   

     Den guten Zeiten kann man nachtrauern. Aber sie sind vorbei. Wir können nur wieder Luft bekommen und Bewegungsfreiheit, wenn wir diese "Kino-Tradition" zwar nicht vergessen, aber wieder zu mehr oder weniger subversiven Produktionsweisen kommen. die Bilder sozusagen neu erobern, im Bildersalat, der ständig angerichtet wird. (Und wir stehen da erst am Anfang.)   


     Wir haben Angst vor der Nummerierung, Digitalisierung, vor der Elektronik überhaupt. Wir lächeln über den Begriff "Video". Aber wir lächeln, weil wir uns fürchten davor. Und die Angst gilt es kennenzulernen. Also nehm' ich so ein Ding in die Hand. Was kann es, erzeugt es mir Sachen, die ich brauchen kann? Mit dem Anspruch "Kino" muß ja nun wirklich nicht nur eine ARRI-Filmkamera verbunden sein. Oh nein, das Fernsehen arbeitet noch immer mit der ARRI. Und Fernsehen ist nicht Video. Und elektronisches Bildaufzeichnen nicht Fernsehen. Ist, oder kann Elektronik nicht auch Kino sein? Ein Raum. ein großes Bild vorne. wie ein Fenster. Für Bilder, die elektronisch erzeugt wurden? In - wenn man will - völlig anderen Produktionsverhältnissen? In einer viel größeren Kreativität - wenn man kann (vom Bilder festhalten, verändern, über digitales Verarbeiten bis zur völlig synthetischen Generierung)?  


     Gut, das traditionelle Kino gibt es so auf jeden Fall nicht mehr. Und das Zelluloid wird gehen. Wir werden aber auch die letzten "Kino-Reservate" verlieren, wenn wir die elektronischen Bilder weiterhin den Werbespot-Machern und Tagesschau-Berichtern überlassen. Es gilt sich einzunisten in diesen neuen Schaltkreisen, bevor es zu spät ist, und die Bilderverteiler uns weltweit versorgen. (Die werden übrigens ihre Kinos haben, weil sie sie brauchen für ihre Kampagnen-Wirkung auf allen Schienen).   


     Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen: DIE FRAU OHNE KÖRPER UND DER PROJEKTIONIST zeigt unter anderem ja auch eine Reibung der Medien, für den der's sehen will. Der Film ist auch eine Brücke zwischen diesen Medien. Sie ist tragfähig. Ich habe sie schon benutzt und ich denke, daß sie noch einige benutzen werden. Er ist eine Liebeserklärung ans Kino - mit der Absicht, seine Liebe zum Kino hinüberzubringen, ans andere Ufer. Und sie hoffentlich sogar neu zu beleben. Mit anderen Worten: das Erzählen mit Bildern gerade jetzt von Neuem ernst zu nehmen. Und mit diesem neuen Medium - was ja eigentlich nur eine neue Technik ist - eine neue Freiheit zu erlangen, wie wir sie uns immer haben wegnehmen lassen, mit Produktionstechniken, die erstarrt sind. Nach Methoden, wie sie ein letztes Mal die "Nouvelle Vague" in Frage gestellt hat. Aber seitdem ist viel passiert, aber nicht mehr im Kino, sondern in Labors und Konzernzentralen. Erst Mitte der 50-ger Jahre war man übrigens in der Lage, elektronische Bilder auf Band aufzuzeichnen (Ampex!).   


      Und schließlich: Video ist nicht prinzipiell billiger (die Materialrechnung zwischen Zelluloid und Band bleibt schief), es ist anders, manchmal vielleicht auch kostengünstiger. Das andere interessiert mich, der handwerkliche (!) Aspekt im Umgang damit. Einerseits wird die Elektronik von Konzernen genutzt - andererseits ist ein völlig unabhängiges Benutzen möglich. Unzählige Kleingewerbe-Betriebe gegen Welt-Konzerne! Auch ein VHS-Filmer ist schon ein Gewerbetreibender. Ich fühl mich weiterhin mit ihm verbunden, mehr denn je (ich begann auf 8 mm-Film).   


     Das wollte ich schreiben, um nochmals deutlich zu machen, daß der "Abschied vom Zelluloid" der Beginn einer Eroberung ist. Insofern haben Bauer und Bundschuh einen Film machen müssen, der angeblich zu viel will. Die Sache ist weder zu verkaufen, noch ist sie eine Botschaft. Der Film scheint mir viel eher eine gelungene und schöne Irritation zu sein, die etwas vermittelt, was uns herausfordert, was Bewegung bringt in eine Landschaft, die absehbar sonst wie die Wälder abzusterben droht. (Ach ja, da wäre noch RTL, noch 'ne Angst.) "Abschied vom Zelluloid" ist sicherlich begreifbarer als jede Wirtschaftssendung. Aber muß man denn heute eigentlich alles erklären? Ein sogenannter Lehrfilm will der Bericht sicherlich nicht sein. Zu belegen gibt es nichts, aber "aufzuzeichnen".   


     Sie sehen. eine Besprechung der Sendung könnte wohl auch anders aussehen.   

Bis demnächst, hoffentlich in einem Kino, mit freundlichen Grüßen   


Niklaus Schilling

VISUALFilm - Texte 1 Dormire - Das rasende Studio Die Vertreibung aus dem Paradies - Drehen im Bett Gabriel Barylli - Die Frau ohne Körper und der Projektionist Die Vertreibung aus dem Paradies - Flucht von der "Bavaria" Nachtschatten Niklaus Schilling - Die Frau ohne Körper und der Projektionist Niklaus Schilling - Der Westen leuchtet! Die Vertreibung aus dem Paradies - Rückkehr ins Paradies? Unter 4 Augen - Die Brüder in den Canyons Der Willi-Busch-Report Liane Hielscher - Die Frau ohne Körper und der Projektionist John van Dreelen - Nachtschatten Die Vertreibung aus dem Paradies - Die Szene im Bett Die Frau ohne Körper und der Projektionist Due Frau ohne Körper und der Projektionist - Die "Ambulanz" in Einsatz Die Frau ohne Körper und der Projektionist Rheingold - Dreharbeiten VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1



DIE ZEIT Nr.44 vom 21.10.1977

 

Kino der tausend Tricks   


Hans C. Blumenberg zu »Die Vertreibung aus dem Paradies«   


     Der erste Film geht so: Nach vielen Jahren in der Fremde kehrt der verlorene Sohn in die Heimat zurück. Zu spät indessen erreicht er das Sterbebett der Mutter. Nach kurzer Trauer ergibt sich ein inzestuöses Verhältnis mit der blonden, bleichen, verhärmten Schwester, die - arm, aber ehrlich - ein kleines Photo-Geschäft führt und hartnäckig von einem unsympathischen Bankangestellten umworben wird. Der verlorene Sohn erkennt sein Unrecht und bricht wieder auf zu neuen Ufern: ein kleinbürgerliches Melodram.   

     Der zweite Film geht so: Ein mäßig erfolgreicher Kino-Kleindarsteller, von widrigen Umständen aus Rom nach München verschlagen, sucht Anschluß an die hiesige Filmbranche und muß feststellen, daß es sie überhaupt nicht gibt. Die »Deutsche Garant Film« garantiert allenfalls noch ihre eigene Pleite. Eine geplante Großproduktion mit dem Titel »Die Toteninsel« bleibt ebenso ein Hirngespinst wie das Ansinnen unseres Helden, beim Fernsehen unterzukommen. In dessen riesigen Verwaltungs-Trakten findet er nicht einmal das Besetzungsbüro, und auch ein kurzes Engagement als Hauptdarsteller in einem Werbespot endet desaströs. Von einem Regisseur getrieben, der so tut, als sei er mindestens Cecil B. De Mille bei den Dreharbeiten zu den »Zehn Geboten«, ruiniert der Glücklose alle Aufnahmen: eine Satire auf die deutsche Kino-Situation.   

     Der dritte Film geht so: Eine schöne junge Gräfin schlägt sich als professionelle Heiratsschwindlerin durch ihr standesgemäß aufwendiges Leben. Ein Fremder hilft ihr aus einer gefährlichen Lage und dient fortan als Sekretär und Geliebter. Als das Paar beschließt, sein Geschäft zu verlegen und die trickreich erschlichenen Juwelen des adeligen Fräuleins zu versilbern, kommt es zu einer gefährlichen Konfrontation mit einer Hehler-Bande. Die Gräfin blutet, das Geld ist weg: ein Society-Krimi mit komödiantischen Intermezzi.   

     Jeden dieser Filme kann man sich vorstellen, doch keiner kommt in Niklaus Schillings Film »Die Vertreibung aus dem Paradies« wirklich zustande. Kaum beginnt man sich in der ersten halben Stunde im bedrückenden Vorstadt-Stück einzurichten, erweist es sich unversehens als Präludium zu einer Satire. Mit dem Milieu ändert sich der Ton der Inszenierung, aber auch das Spottlied auf das Koma einer Branche, eher dissonant, geht nahtlos über in ein hintergründiges, elegantes Salon-Stück. Eine Zufallsbegegnung am Hotel-Fahrstuhl gibt der Intrige noch einmal eine unverhoffte Wendung, doch selbst diese Volte schafft keine Sicherheit, sondern bereitet eine letzte, noch verwegenere Falle vor: Auf der Autobahn zwischen München und Rom treffen sich Melodram, Satire und Krimi, und folgerichtig bricht das Personal der drei unvollendeten Filme, die nun endlich als Einheit zu erkennen sind, in jene Stadt auf, in der die Tagträume und Illusionen noch eher entstehen als in deutschen Femseh-Studios - Cinecittà. Dort weist ein als Engel verkleideter Komparse (oder ein echter Engel, man weiß es nicht mehr) mit großer Geste den Weg ins verlorene Paradies.   

     Für Niklaus Schilling ist dieses Paradies das Kino. Zwei Stunden lang beschwört er jenen magischen Ort, den Claude Levi-Strauss 1964 im Gespräch mit Jacques Rivette und Michel Delahaye so beschrieben hat: »Es war dies eine Art Rückzugslager für den Menschen von heute, wo man sich freiwillig den Bildern, die über die Leinwand liefen, überlassen oder in Tagträume versinken konnte.« Schillings Film, sein zweiter erst nach »Nachtschatten« (1971), heißt aber »Die Vertreibung aus dem Paradies«. In den drei Geschichten, die er zu erzählen anhebt, aber dann doch nicht ganz erzählt, handelt er von einem Verlust (nämlich jenes »Rückzugslagers«) und von einer Hoffnung: auf die Wiedergeburt eines Kinos, das sich auf seine eigentliche Kraft besinnt. Levi-Strauss hat gesagt: »Ich mag die Maler nicht, die aus ihrer Malerei eine Philosophie machen, und ich mag die Filmemacher nicht, die aus ihren Filmen eine Philosophie machen. Die Philosophie - wenn es sie gibt - muß in der Bewegung und im Ablauf der Bilder selbst stecken und nicht in Botschaften, die man uns mit einem Keulenschlag einbleut.«   

     Mit Keulenschlägen hat auch Niklaus Schilling nichts im Sinn, um so mehr mit Bewegungen und Bildern. Seine Erinnerung an das Kino, das es einmal gegeben hat, erschöpft sich nicht in Zitaten (obwohl er Fritz Lang zitiert, das Ende des »Tigers von Eschnapur«), sondern lebt aus einem großen visuellen Reichtum, in den viele Kino-Erfahrungen eingegangen sind. Von der ersten Einstellung an - in einer verschneiten bayrischen Grenzstation wird eine schwarz-rot-goldene Fahne eingeholt, während die Kamera langsam vom Fahnenmast nach unten fährt - zieht er den Zuschauer in einen Ablauf, wie er nur in einer Kino-Inszenierung existieren kann: eine in ihren Formen und Farben autonome Kunst-Welt, die zwar Elemente der konkreten Realität verarbeitet, sich aber letztlich doch über diese Realität erhebt. Eine bis ins kleinste Detail inszenierte Welt: die heiratsschwindelnde Gräfin macht vor, wie das geht. Sie lebt in einem perfekt arrangierten Visconti-Dekor, ebenso kostbar wie stilsicher, und in diesem künstlichen Rahmen inszeniert sie sich selber, verschafft sich ihre Auftritte und Abgänge. Man ist schockiert, sie später dezent bluten zu sehen.  

     Auch ihr Komplize, der aus Rom heimgekehrte Kleindarsteller Andy Pauls alias Anton Paulisch, gespielt von dem aus Rom heimgekehrten Kleindarsteller Herb Andress, stellt sich seine eigenen Spiel-Orte her. Für seinen Glanzauftritt als »The Mechanical Man«, mit dem er auch schon in Hollywood aufgetreten ist (aber nur vor den verschlossenen Toren der Paramount), verwandelt er das Büro des Garant-Film-Produzenten mit einem einzigen Accessoire, einem großen Kerzenleuchter, in eine geheimnisvolle, schattenreiche Horror-Landschaft. »The Mechanical Man« ist seine beste Nummer; Schilling, Komplize seiner Schauspieler, läßt sie ihn immer wieder vorführen.   

     Wie Magie entsteht und wie sie kaputtgeht: die Figuren in Schillings Film führen ständig neue Verwandlungen vor, mit sich selber (der Bank-Mensch wird zum Bank-Betrüger, der Schauspieler zum Privatsekretär), mit den Schauplätzen, mit den Handlungssträngen. Nichts bleibt schließlich so, wie es zunächst schien, und das Vergnügen, das dieser Film bereitet, resultiert direkt aus seinen Tricks, seinen doppelten Böden, dem trompe-l'oeil in immer neuen Variationen. Nur wenn der Alltag in diese Welt einbricht, sie sich zu unterwerfen trachtet, geschehen kleine Katastrophen: bei der Reklame-Aufnahme, deren Inszenierung allein ökonomischen Gesetzen gehorcht, bei der Begegnung mit den »richtigen« Gangstern, die das fragile Spiel nicht mitmachen. Vor diesen Störmanövern der Wirklichkeit retten sich Schilling und seine Figuren in ihre verschwenderischen Kulissen, in ihre Kino-Welt.   

Daß in der letzten Sequenz ein Engel den Weg weist, ist mehr als ein beliebiger Gag. Schilling glaubt an ein Kino der Mythen und Märchen: "Das waren ja Bildergeschichten, die einem auch so erzählt wurden, als säße man im Kino. Man kann sagen, daß die besonderen Qualitäten des deutschen Kinos natürlich mit dem Land, der Gegend, dem Boden, vielleicht mit den Menschen überhaupt zu tun haben. Und den Mythen eben auch. Eine "deutsche Gefühlswelt, wenn man so will, die ein geradezu idealer Kinostoff sein kann."   

     Deutsche Träume eines Filmemachers, der aus der Schweiz stammt, der früher Kameramann bei Klaus Lemke, Rudolf Thome und Jean-Marie Straub war, der vor wenigen Wochen seinen dritten Film abgedreht hat: »Rheingold« wird er heißen, nach dem TEE-Zug, in dem er spielt, aber wohl auch als Hommage an die Gefühlswelt der Oper, der Schilling stark verpflichtet ist. In der »Vertreibung aus dem Paradies« gibt es viel Verdi und Donizetti zu hören, die Emotionalität verstärkend, gelegentlich auch stilisierend. Opern-Musik ist Kino-Musik, und dazu drückt sie hier eine Sehnsucht nach einem freundlicheren Süden aus.   

     Keine Mißverständnisse: Schillings »deutsche Gefühlswelt« ist nicht verschwommen und dumpf, sondern spielerisch, oft sogar heiter. Ihre seltene Qualität besteht darin, daß sie einerseits ihre Voraussetzungen und Mittel durchsichtig macht, dann aber doch dem Betrachter einen wunderschönen Traum erfüllt: vom Kino, von der Leuchtkraft seiner Farben, von der Präzision der Cadrage (Bildausschnitt), von einem Licht, das Schauplätze zu definieren vermag. Er fliehe vor dem Fernsehen, erklärt der Kleindarsteller Andy Pauls einem Taxifahrer. Mit ihm flieht Schilling: geradewegs ins verlorene Paradies. Warten wir auf »Rheingold«.  


Pressbook  -  Berlinale 1984

  

Bildermachen wie die Feuerwehr     


Dipl. Ing. Stefan Meisel berichtet

über die Dreharbeiten von

"Die Frau ohne Körper und  der Projektionist"   

     

Am Anfang klingelte das Telefon, soweit ist das üblich. Ein neuer Auftrag: Niklaus Schilling hat die Absicht, einen Videofilm zu drehen. Einen "elektronischen Spielfilm", sagt er. Das ist absolut unüblich. Und vor allem will er den fertigen Film auch ins Kino bringen - fürs Kino einen Videofilm drehen, das ist einmalig, zumindest hier bei uns.  

     Bis jetzt sah ich mich weit eher als Nothelfer im Umgang mit der Videotechnik; so, wie man zum Zahnarzt geht, kommt man zu mir. Ich soll retten, was noch zu retten ist. In selteneren Fällen ging man davon aus, daß ein hochgezüchtetes elektronisches Equipment einen Ansprechpartner braucht, der es auch zu verstehen versucht. Immer wieder wundere ich mich, wie kopflos bei Videoproduktionen gearbeitet werden kann. Dabei ist doch eines der wesentlichen Teile eines Recorders der "Video-Kopf"! Ohne ihn gäbe es keine Information auf den magnetischen Bändern, kein Bild.  


     So treffe ich also Schilling, gefaßt auf ziemlich alles. Er gilt als anspruchsvoll, pingelig, virtuos sozusagen im Umgang mit der Technik. Aber das ist Film, Filmtechnik, Schneideraum. diese stufenartige Realisierung. Und nun will dieser Regisseur also mit der Elektronik arbeiten. Wir reden ein bißchen, und ich bemerke bald, daß er durchaus Elementares der Videotechnik weiß. "Angelesen", sagt er, "und ausprobiert". Immerhin hat er ja einen ersten Film in VHS schon gemacht: ZEICHEN & WUNDER. Er drückt mir eine Kassette davon in die Hand. Ihn behinderte kein Meßwert, keine Norm. Er hat offenbar untersucht, was er mit Video eigentlich machen kann. Erst jetzt erfahre ich, daß er wohl vorhat, in studiomäßiger 1-Zoll-Technik zu arbeiten! Ich bin ziemlich aus dem Häuschen,  denn so eine Produktion kann man sich schon wünschen. Gleichzeitig fällt mir allerdings ein ziemliches Gewicht auf die Schultern: damit weiß ich, daß er die heute bestmögliche Qualität aus der elektronischen Bildaufzeichnung rausholen will. Er zeigt mir einen kurzen Test: ein 35-mm-Film, umkopiert von 1-Zoll-Band. Erstaunlich die Qualität, aber nur erreichbar eben, wenn wir auf 1-Zoll arbeiten. Diese Nacht träume ich von Kabeln und Bändern, die ich wie Schlangen beschwören muß.  


     Dann sitzen wir schon im Zug nach Luxemburg. Die Spannung steigt weiter: RTL (Radio-Télé-Luxembourg) nämlich ist Coproduzent und stellt für den Film die gesamte Ausrüstung. Eines der besten Videostudios Europas will mir offenbar seine Technik anvertrauen. Ich denke wieder an meine Schultern, aber ich laß' mir nichts anmerken. Schilling will gründlich vorgehen. Und RTL auch. Wir testen die beste Geräte-Konfiguration, und wir komplettieren vor allem die "Ambulanz": ein komplett ausgestatteter Aufnahmewagen. Alles ist drin, was für optimale 1-Zoll-Bilder benötigt wird. Natürlich der Recorder, Meßbrücke, Bezugsmonitor, Tonmischer, sogar Akkus, die ihn netzunabhängig machen. Und das alles in einem Citroen-CX! Klein, wendig, genau das, was wohl für die geplante Produktionsmethode gebraucht wird. Die RTL-Leute sind sehr hilfsbereit, bauen auf unseren Wunsch sogar noch zusätzliche Dinge ein - zum Beispiel einen Timecode-Leser.  


     Schließlich fährt die "Ambulanz" nach München ein. Gusty Feinen am Steuer, einer der RTL-Techniker, die das fahrbare Studio gebaut haben. Er soll mir zur Hand gehen. Und mich auch sicher noch etwas im Auge behalten. Spätestens jetzt spüren wir alle, daß wir tatsächlich am Beginn einer 12-wöchigen Expedition stehen. In 1-Zoll an Original-Schauplätzen drehen und nicht im Studio. Nur nach einer Storyline Tag für Tag mit den Schauspielern die Geschichte weiter entwickeln. Dabei die Möglichkeiten der Videotechnik auch ausnutzend. Nicht zuletzt eben das Ständig-kontrollieren-können. Das "reflektierende Arbeiten", wie Schilling sagt. Ich träume wieder: diesmal von einem Bänder-Salat, von der blinden Kamera, die mir keine Bilder machen will. Glücklicherweise hat Schilling sogar den Luxus einer Gewöhnungsphase einplanen lassen. Eine Woche spielen wir ziemlich herum, machen weitere Tests, vor allem für eine neueste Umkopierung.  


     Es spielt sich ein. Wir haben diverse Sachen erfunden. Zum Beispiel auch ein spezielles Karteien-System, mit dem wir das schnell wachsende "Bilder-Archiv" gut im Griff haben. Keine endlosen Schreibarbeiten, schneller Zugriff auf Gedrehtes. Von Anfang an überspielen wir die 1-Zoll-Bänder mit eingeblendetem Timecode auf 1/2-Zoll-Kassetten. So hat für Schilling der ganze Film, auch nach 12 Wochen, noch Platz in einem Schuhkarton. Und er kann, wann und wo er will, das schon Aufgezeichnete immer und immer wieder sehen.  


     Jetzt sind auch die neuesten Tests vom Umkopieren aus Los Angeles gekommen. Wir sitzen im Kino und sehen erstmals unsere elektronischen Bilder auf der Leinwand. Allgemeines Staunen herrscht. Auch die Kollegen des Kick-Teams, die unsere Arbeit unter dem Titel "Abschied vom Zelluloid" die ganze Zeit über verfolgen wollen, sind sehr angetan. Als hätte sich die Transfer-Technik gerade für unseren Film in den letzten paar Wochen nochmals um einiges verbessert, sehen wir Bilder, die wir so gut gar nicht erwartet haben. Zufrieden gehen wir einen trinken und arbeiten weiter. Allerdings hat uns Gusty Feinen heute wieder verlassen. Er ist der Meinung, daß die Sache nun läuft... Hoffentlich.  


     Nun sitze ich schon Wochen in meinem ja nicht gerade großräumigen Aufnahmewagen. Meist auf einiger Distanz zum Drehort, auf der Straße vor dem Haus, um eine nächste Ecke, bin ich konstant Beobachter und Lauscher einer Szenerie, die sich immer wieder zu neuen Bildern ordnet. Stufe um Stufe kann ich ihren Aufbau verfolgen, sehe ich, wie die Szene erarbeitet wird. Über die Tonleitung führen wir rege Gespräche, zeigt man mir Absichten der Lichtführung auf dem Monitor, nicht selten gehen sie bis an die unteren oder oberen Meßgrenzen. Und ab und zu muß ich auch zur Mäßigung rufen. Das berühmte "Rauschen" wollen wir ja vermeiden. Jener Effekt, der sich so unschön in rieseligen Farben und unruhigen Konturen zeigt. Wir bewegen uns konstant auf einer ziemlichen Gratwanderung. Normal ist kaum etwas. Und die Automatiken werden sowieso nicht benutzt, so hat sich auch ein Farbstil, eine Dramaturgie entwickelt, die ich jedoch keinesfalls nur nach dem Auge im Griff haben möchte. Lieber verlasse ich mich auf die Meßinstrumente, denn gerade nachts verändert sich das optische Empfinden ganz erheblich.  


     Die Kamera ist ausgefallen! Kein Bild, schwarz. Kein Lebenszeichen. Allgemein geht man davon aus. daß nun der Tag im Eimer ist. Auflösungsstimmung. Ich packe meinen Werkzeugkoffer aus. Nervös bin ich schon. Die telefonische Schilderung der Krankheitssymptome hat wohl auch die RTL-Leute nicht auf eine Idee gebracht. So öffne ich die Kamera. Erste Diagnose: Kurzschluß. Die anderen sind rausgegangen. Ich bin mit dem Problem allein. Zuerst muß ich einfach mal das Innenleben betrachten. Das Manual - den Bauplan - der Kamera auf den Knien. Der Lötkolben ist längst warm. Und dann vermute ich eine kritische Stelle, einen Kondensator. Er sieht irgendwie merkwürdig aus. Warum weiß ich nicht. Tatsächlich hier messe ich einen Kurzschluß. Ich  schreite  zur "Operation". So eine elektronische Kamera hat ein sehr enges Innenleben. Mit aller Vorsicht löse ich diesen überführten Kondensator, entlöte ihn. Jetzt bin ich wieder zuversichtlich. In einem nahen Radiogeschäft hat man schnell ein entsprechendes Ersatzteil gefunden. Nach einer Stunde sitzt es in der Kamera. Silke - unser Video-Script und meine Assistentin - schaltet vom CX her die Kamera wieder ein: Tatsächlich, sie wärmt sich, das Bild flammt wieder auf!  Meine Schultern spüren nichts mehr. Ich denke, daß ich die Technik ganz gut im Griff habe. Schilling scheint es wohl erwartet zu haben, nimmt die Kamera, als wäre nichts geschehen und dreht weiter.  

     Wir sind inzwischen völlig eingespielt. Jeder kennt seine Handgriffe. Tagtäglich rücken wir mit dem Wagen aus, als wären wir die Feuerwehr. Der Aufbau geht wohl ähnlich schnell. Nur gibt es kein Feuer zu löschen, sondern Bilder zu machen:



      Erste Aufzeichnung von Proben, die nach dem Zuspielen auf den Farbmonitor am Aufnahmeort meist wieder gelöscht wird.  

Änderungen, die sich technisch und ästhetisch ergeben.  

Mehrere Takes der Einstellung bleiben bestehen. Bis schließlich allgemeine Zufriedenheit festgestellt wird.  

Abbau für den Einsatz am nächsten Drehort.  

     Das Material ist inzwischen auf über 40 Std. angewachsen. Laufend wird es nach Luxemburg gesandt. Eine durchgehende Studioqualität, obwohl unter oft harten Aufnahmebedingungen (z. B. Kälte) entstanden, scheint man nicht unbedingt erwartet zu haben, sicherlich hat man sie erhofft. Auf den großen Studiomaschinen prüfen sie unsere Bilder Minute um Minute. Am Telefon besprechen wir dies und das: Erfahrungsaustausch. Schilling macht es einem nun wirklich nicht leicht. Er will immer an die Grenzen gehen. Er sagt, daß er "Kino" machen will. Und das kann eine harte Prüfung sein für die Technik. Ich wundere mich nicht selten, was für Bilder auf meinem Monitor erscheinen. Erst bei diesem Film eigentlich besteht das Videobild nicht nur aus Meßwerten, sondern aus einem geformten Bildinhalt, der eben noch eine Menge anderes transportiert: Emotion nämlich. Ich bin dieser Art des Machens ziemlich anheimgefallen. So wie Schilling wohl der Elektronik. Eine gute Kombination. Ich bin gespannt, welchen Weg das Material schließlich auch noch in der Bearbeitung nehmen wird. RTL-Productions hat ein perfektes Studio. Wir werden es ebenso nutzen können, wie wir das Aufnahme-Equipment nutzen.         

     Die Expedition ist weit fortgeschritten. Wir zeichnen magnetisch Bilder auf, als hätten wir nie was anderes gemacht. Schilling sagt mir irgendwann zwischendurch: "Übrigens, ich hab' ein neues elektronisches Projekt im Kopf. Wir werden noch weiter gehen..."    

     Wahrscheinlich lächle ich entspannt, obwohl gerade der Recorder verrückt spielt: sinnlos fährt er plötzlich, wie von Geisterhand gesteuert, irgendwelche Timecode-Stellen an... Aber er beruhigt sich bald wieder, als wollte er das nächste Projekt nicht gefährden...   

    

  


DER SPIEGEL  Nr.21 / 1980


  

Lokaltermin mit Zwischenfällen


Marie-Luise Scherer über die Uraufführung des

"Willi-Busch-Report" in Eschwege  

  

     Hätte Willi Busch aus dem Rahmenprogramm zu dieser Filmpremiere eine Schlagzeile machen können?   

 Vor dem Landratsamt Eschwege steigen Journalisten in einen dunkelgrünen Bus vom Bundesgrenzschutz. Polizeioberrat Blessmann, Presseoffizier beim Grenzschutzkommando Mitte, erklärt das tiefgestaffelte Sperrsystem der DDR-Grenzanlagen. Er trägt einen natogetigerten Wettermantel und steht mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. An den Sitzbänken sind zum Mittelgang des Busses hin jeweils zwei Gewehrhalterungen angebracht.   

     Die Fahrt geht zu einigen in äußerster Grenznähe gelegenen Orten. Der Polizeioberrat erfüllt eine komplizierte Aufgabe. Er muß für die Grenze als Schrecken werben und gleichzeitig für die Schönheit von Oberhessen.   

     Wanfried zum Beispiel stößt mit drei Seiten wie eine Schublade an die Grenze. Dem Bürgermeister Thomas ist diese Abgeschiedenheit mindestens zwei Gehaltsstufen wert. Er bittet die Besucher zu einem Glas Sekt in seinen Amtssitz, der früher Handelshof der Familie von Uckermann aus Bremen war. In diesem Zusammenhang erwähnt er die Vergangenheit Wanfrieds als Endhafen der Weser/Werra-Schiffahrt.        

     Der Bürgermeister erlaubt sich, nicht zu klagen, sondern zählt die Industriezweige der Gemeinde auf: Schmirgelpapier, Instrumente für die Hals-, Nasen- und Ohrenmedizin, Strickwaren, Offsetdruckerei.   

     Neben dem Bürgermeister am Kopfende des Saales sitzt Niklaus Schilling, der Regisseur des Films "Der Willi-Busch-Report". Um Wanfried zu finden, sagt Schilling, sei er zwischen Hof und Lübeck die Grenze auf und ab gefahren. Dann ließ er mit endgültiger Gewißheit seine Handlung in Wanfried spielen, dem er im Film den Namen Friedheim gab.   

     Der Bürgermeister empfindet diese Wahl als Ehre. Obwohl Wanfried als Friedheim nur seine Eigenschaft als abgeschnürte Kleinstadt darstellen darf, hat er sich entschlossen, diese Beachtung zu genießen.  

     Willi Busch (Tilo Prückner) ist die Hauptfigur des Films; Besitzer und einziger Reporter der Lokalzeitung "Werra-Post". Es ist eine peinigend selbständige Existenz. Er braucht zum Leben Zwischenfälle. Doch Friedheim ist ereignisarm, unzumutbar ebenmäßig vergehen die Tage. Auch wenn die Kraft- und Luftfahrzeuge des BGS gegen das Vergessen der Gefahr vor Ort sind, bringt das dem Busch keine Zeile.   

     Ziellos, doch irritierbar fährt Busch in seinem gelben Kabinenroller das deutsche Hindernis entlang. Auf einer Wiese sieht er ein kleines Mädchen, wie es zu Schafen spricht. Es verkündet ihnen die Wiedervereinigung Deutschlands.  

  Willi Busch steht unter dem Druck der überregionalen Boulevardzeitung "Tag", die den Friedheimern das tägliche Pulsjagen bringt. Um zu konkurrieren, muß Busch sich selber Sensationen scharfen. Er schneidet Telephonhörer in Fernsprechzellen ab. Die "Werra-Post" dankt ihm diese Gemeinheit durch besseren Verkauf.   

  Willi Busch meldet den Herztod eines Durchreisenden als Mord an einem Spion. In Friedheim passiert endlich das Schlimme. Es passieren auch richtige Morde, die den Reporter nervlich überfordem. Es scheint, Willi Busch hat das Verbrechen herbeigeschrieben und wird daran krank.       

    Weiterfahrt nach Heldra. Polizeioberrat Blessmann lenkt die Blicke auf die äußere Intaktheit der Ortschaften Völkershausen und Altenburschla, beides Bundessieger im Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden". Durch Zierrasen, Blautannen und Kübelpflanzen haben manche Gärten eine undörfliche Wirkung.   

     In Heldra verlassen die Fahrgäste den Bus und steigen in zwei bereitstellende Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes. Um den Passagieren beim Fliegen einen Aufschrei zu entlocken, läßt ein Pilot seinen Hubschrauber einmal kurz runtersacken. Nach dem Informationsflug entlang der Grenze ist Kaffeezeit im "Gasthaus Werratal".   

  Der Kaffee wird in geübter Gleichzeitigkeit eingeschenkt. Die Kundschaft vor den bestellten Gedecken erhält ein Mitteilungsblatt vom Grenzschutzkommando Mitte. Die Fenster des Lokals gehen zur Sperranlage und einem Besichtigungspodest.   

     Herr Kapahnke, Oberstabsmeister im BGS und CDU-Stadtrat von Wanfried, sagt, das "Gasthaus Werratal" bringe jedem seiner Pächter den Ruin. Im Sommer, erzählt er der Gruppe, in deren Mitte er Kuchen ißt, kommen Schulkinder angefahren, turnen auf dem Hochstand nun, verzehren nichts und stehen Schlange vor den Gasthaus-Toiletten. Kapahnke vermißt bei vielen dieser Stippvisiten einen der Grenze gemäßen Ernst.   

     Am Ende des Nachmittags steht der Besuch von Gut Marienhof. Freiherr Roeder von Diersburg führt an das Stück Grenze, welches seinen Besitz tangiert. Auf Marienhof leben alle glücklich, sagt er. Sogar die Detonationen der SM 70 genannten Splitterminen lassen ihn weiterschlafen. Er ist schußgleichgültig geworden.   

     Die Freifrau trägt am Kragen des Lodenmantels in Gold gefaßte Hirschzähne. Aus ihrem Hutband springen in kleineren Bogen Fasanenfedern. Da es regnet, kommt auch die Pferdemusterung ihres Schirmchens zur Geltung.   

     Beim Umtrunk im Pferdestall erzählt sie, BGS-Hubschrauber blinkten manchmal einen Gruß zur Erde, wenn sie abends mit dem Hund in ihrer Einsamkeit gehe. Längs des Stalles stehen in Boxen die Zuchtstuten mit Ahnenausweisen. Den Kornschnaps servieren eine Roedersche Tochter und ein Rotarier-Gastkind aus Südafrika. Bevor die Gutsherrin ihr Glas hebt, fragt sie in die Runde: "Haben auch alle einen Fahrschein?" Zur Ermunterung für ein weiteres Glas fragt sie: "Haben auch alle nachgelöst?"   

     Der Nachmittag ist um. Die Grenzfahrer haben das Revier des Provinzreporters Willi Busch erlebt. Busch selber hätte sich diesen Ausflug wahrscheinlich nicht zugemutet. Denn er kennt alles im Überdruß. Sogar die Stacheldraht- und Metallgitterzäune sind für ihn nur noch von dösender Brisanz. Busch ist kein Todeszaun-Dozent. Um die verschärfte Provinz Friedheim zu ertragen, hilft ihm kein Glaube an den Ernstfall. Ihm fehlt der "innere Feind".  

     Die Premiere des "Willi-Busch-Report" findet am Abend in der "Palette" von Eschwege statt. Der "Spielmannszug Werratal" zieht auf und postiert sich in einem Halbkreis vor dem Kinovorhang. In den Sesseln viele Ehrengäste aus Wanfried, Bürgermeister Thomas, Stadtverordnetenvorsteher Sinke, die Mitglieder des Magistrats, die Fraktionsvorsitzenden, Wehrführer Löffler, Oberstabsmeister und Stadtrat Kapahnke, die Roeders von Diersburg, natürlich auch Polizeioberrat Blessmann.  

Die Frau ohne Körper und der Projektionist - Team mit "Ambulanz" Der Willi-Busch-Report - Grenzsicherungsarbeiten Der Willi-Busch-Report - Das Wunderkind Die Frau ohne Körper und der Projektionist - Nachtdreh Die Frau ohne Körper und der Projektionist - In der "Ambulanz" Der Willi-Busch-Report - Was ist da los? Der Willi-Busch-Report - "Panne an der deutsch-deutschen Grenze" VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1



Film Dienst - Nr.25 / 1985


„Lust am Misstrauen *)


Horst Peter Koll über

Niklaus Schilling’s DORMIRE



Es ist verblüffend, mit welcher Konsequenz Niklaus Schilling von Film zu Film die Auseinandersetzung mit neuen Bilderzeugungstechniken vorantreibt. Mag sein erster Video-Film ,,Zeichen und Wunder" (1981) noch eine von Neugierde geprägte Spielerei gewesen sein, so war ,,Die Frau ohne Körper und der Projektionist " ( 1983 , fd 24 800) bereits ein mittels Videokamera realisierter Kinofilm, der sowohl über die angewandte Technik als auch über die Handlung die Konflikte zwischen ,,alten" und „neuen“ Medien thematisierte. Nur auf den ersten Blick verblüffend ist indes, dass Schilling nun mit „Dormire“, ebenfails auf l-Zoll-MAZ gedreht, wieder hautnah an den Erzähltraditionen des Kinos ist; er hat sich die Möglichkeiten der Video-Technik dermaßen angeeignet, dass er sie, was Einstellungs-

größten, Bildausschnitt und Kameraperspektiven betrifft, wie die „guten, alten“ Kinoerzähltechniken anwenden kann. Da „Dormire“ im Gegensatz zu

"Frau ohne Körper..." nicht auf 35 mm umkopiert wurde, bleibt diese Kinogeschichte derzeit den Kinos vorenthalten; nur die, die über eine moderne Video-Beam-Anlage verfügen, können sie auf eine große „Leinwand“ bringen. Da ist Schilling den Möglichkeiten der Kinos (leider?) einen Schritt voraus.


„Dormire“ spielt ausschließlich in einem Schlafwagenabteil eines Schnellzuges und handelt von der Begegnung zweier Frauen, die von Hamburg nach München dieses Abteil miteinander teilen. lnge Romanek ist Journalistin, eine sich lässig und souverän gebende, welt-“männische“ Frau, die zunächst amüsiert ihre unerwartete Abteil-Genossin, die unruhig, zerfahren und ängstlich wirkt, beobachtet.

Im Verlauf der Nacht erfährt Inge, dass sie Claudia Danner gegenübersitzt, einer einst als ,,Wunderkind" gefeierten Mozart-Pianistin, die sich nun für den Gift-Mord an ihrem Mann verantwortlich fühlt und Hals über Kopf geflüchtet ist. Das zunächst rein journalistische Interesse Inges schlägt immer mehr um in persönliche Anteilnahme. Sie verbündet sich mit Claudia, will ihr helfen. Als alle Hindernisse überwunden zu sein scheinen und man München erreicht hat, setzt Claudia, inzwischen gesammelt und gefestigt, ihre eigene Entscheidung durch. Hier von sei lediglich erwähnt, dass sich zu diesem Zeitpunkt, am Ende der langen Reise durch die Nacht, der Regisseur Schilling selbst einschaltet: Mit ironischer Spitzbübigkeit löst er die bis dahin dicht und packend dargebotene synthetische Geschichte auf, gibt sie als Fiktion zu erkennen und verweist darauf, dass es auch nicht in seinem Ermessen liegt, der Geschichte ein Happy-End zu geben. Wesentlicher als ein solches bleibt die Begegnung der beiden Frauen, eingeengt durch die vorgegebene Zeit der Reise und den engen Raum des Zugabteils. Und dies wird auf packende Weise dramatisiert, wozu eben die Video-Kamera, befreit von aufwendigen Apparaturen wie Kran und Schienen, den Hauptteil beisteuert.

Manchmal ist das (noch) zu viel der Schnitte, Zooms und Aufsichten, da scheinen Kamera und Montage allzu sehr ins ,,Plaudern" zu kommen; doch was da an dramatischer Verdichtung, an Spannung und Suspense (auf inhaltlicher Ebene erzielt durch die Hitchcocksche „Lust am Misstrauen“) erzielt wird, macht diesen Film allemal sehenswerter als alle sündhaft teuren Groß-Produktionen, die vergessen, dass es beim filmischen Erzählen auch um Handwerk und Emotionalisierung geht.


Zwei in ihrem Wesen völlig verschiedene Frauen begegnen sich während einer Zugfahrt im Schlafwagenabteil, wobei die eine, eine Journalistin, in ihrem Gegenüber eine ehemalige Konzertpianistin erkennt, dis an der Ermordung ihres Mannes mitverantwortlich ist. Ein auf Video entstandener Film, der die Enge des Schauplatzes zu dramatisieren versteht und mehr an Spannung und Emotionen erzeugt als manche Kino-Produktionen. Von daher auch ein gelungener Beweis dafür, da8 filmisch überzeugende Erzählformen unabhängig vom finanziellen Aufwand und der Bilderzeugungstechnik sind.

Sehenswert.



*) Textzitat

VISUALFilm - Texte 1



ABSCHIED VOM ZELLULOID?  

Beiträge zur Geschichte und Poetik des Videobildes  

Andreas Kirchner, Karl Prümm, Martin Richling (Herausgeber)  

Schüren Verlag Marburg  - 2008  

  

Niklaus Schilling  


Wie die Stasi mich mit Antonioni zusammenbrachte   

  

Rückblenden in die Wendezeit

der Filmtechnik  

  


Tag/Außen

1979 – Optimal! Die Wolken hingen tief und bedrohlich. Es konnte also losgehen. Wie sagte Raoul Walsh, der legendäre Haudegen des us-amerikanischen Films – oder war es doch Samuel Fuller in einem Godard-Film: «Filme machen ist wie Krieg führen!» Und tatsächlich so war es als wir im Mai 1979 dabei waren, eine ganz besondere Schlacht im Tal der Werra zu schlagen, mit allem was dazu gehört.  

     Hier verlief übrigens die deutsch-deutsche Grenze, hier trennten sich die beiden Weltsysteme. Wir befanden uns noch mitten im Kalten Krieg. Und hier also drehten wir grade die so genannte Schlußapotheose des WILLI-BUSCH-REPORT. Wir hatten furchtbar Glück. Mit reger Unterstützung des Bundesgrenzschutzes war es uns gelungen, die uns ja nicht gerade wohl gesonnenen DDR-Grenztruppen noch einmal zum effektvollen Mitspielen zu provozieren. Und tatsächlich: Man bot auf, was vermutlich bis Erfurt greifbar war.  

     Hart an der Grenzlinie, direkt über unseren Köpfen, knatterte bald ein mächtiges russisches Fluggerät der Volksarmee. ‹Unsere› zerbrechliche Alouette des Bundesgrenzschutzes war dagegen eigentlich ohne Chance. Auf östlichem Boden war bald eine kleine Armee angerückt, die umgehend bemüht war, sich möglichst wieder unsichtbar zu machen.  

     Wir schwankten zwischen Begeisterung und Angst. Es war auch wirklich nicht mehr auszumachen, wann welches Rotorblatt bereits die Luftgrenze verletzte. Die Hubschrauber spielten den Ernstfall. Sagenhaft! Und gefährlich. Denn Willi sollte in seiner allerletzten Aktion schließlich ohnmächtig auf das DDR-Staatsgebiet taumeln. Wir waren auf ziemlich alles gefasst: Entwickelte sich hier nun ein Grenzzwischenfall ungeahnten Ausmaßes, den wir abends dann in der Tagesschau sehen könnten, oder auch nicht mehr, weil man uns hinter den ‹Eisernen Vorhang› verbracht hatte? Die Phantasie blühte. Und was hielt man ‹Drüben› insbesondere eigentlich von einem ganz speziellen Gerät, das wir nun erneut an der Grenze zum Einsatz brachten:  

     Ein schwarzes, unförmiges ‹Ding›, durch eine Art Korsett mit einem Mann untrennbar verbunden. Geradezu feierlich wirkten die undurchschaubaren fast rituellen Aktivitäten damit. Was geschieht da bloß? Irgendwie ist ja auch eine Art Kamera zu identifizieren, könnte aber ebenso eine Waffe sein. Oder – noch bedrohlicher – die geheimnisvolle Apparatur ist in der Lage, Schwachstellen der Grenze aufzuspüren, um dann neue Fluchtwege zu schaffen.  

   

Nacht/Innen  

Wir jedenfalls wußten nun schon länger was man damit alles machen kann. Damals haben wir dieses ‹Ding› noch mit einem kleinen ‹i› gesprochen – geschrieben. Logisch, der schwebende Punkt symbolisiert ja auch sehr schön das Prinzip des Systems Stead-i-cam. Inzwischen rätselt kaum mehr jemand, für was eine solche Apparatur gut ist. Und wenn ein Spielfilm besonders dynamisch wirken wollte, oder einzelnen Szenen mehr Subjektivität verliehen werden sollte, dann war das Steadicam bald Pflicht. Warum auch immer: Später wurde das Gerät dann auch noch weiblich – aus dem Steadicam wurde eine SIE. Vielleicht haben ja die Kameramänner deshalb ihre Scheu noch schneller abgelegt.  

   Ich habe mich immer als ‹Filme-Macher› verstanden – und damit auch als ‹Hand-Werker›. Mechanische Spielsachen wurden vom kleinen Niklaus grundsätzlich geöffnet. Und meine ersten medialen Erfahrungen hatte ich beim Schneiden von Tonbändern. Bald darauf in den unerbittlichen Sog des Kinos geraten, habe ich dort erst einmal Monate im Dunkeln verbracht. Dann mit ‹Nach-Machen› das Praktische erlernt, um später über die Kameraarbeit sukzessive einen eigenen Stil zu erobern. Die Kamera verstand ich so immer als Maschine zum ‹Bilder nähen›. So klang die ARRI 35 ja auch – wie eine Nähmaschine. Also ist es nicht verwunderlich, was das ‹Gerät mit dem kleinen i› nun bei mir alles auslöste.  

     Es begann so: Ich war auf der Suche nach einem Kameramann. Nicht ganz so einfach, wenn man selbst einer war. Aber ich traf dann doch sehr schnell Wolfgang Dickmann. Neugierig, jung, sportlich – was dann später noch sehr wichtig sein sollte – und mit dem Anspruch technischer Qualität bestimmter Werbung durchaus vertraut.  

Und Wolfgang – genannt Dickie – berichtete umgehend von Giorgio – Giorgio Moroder. Von jenem Tiroler Producer nämlich, der so manchen Star machte und dessen Studio in München nicht nur für die Rolling Stones bald ein zweites Zuhause wurde. Auch wenn dieses wohl nach jeder LP renoviert werden mußte... Später sollte Giorgio zahlreiche Oscars und Grammys abholen. Wir verdanken ihm übrigens auch die Musik zu AMERICAN GIGOLO.  

     Also: Dieser Giorgio erzählte Dickie von Garrett aus Kalifornien. Dieser hätte nämlich ein Gerät entwickelt, welches schwebende Filmbilder aufnehmen könne – und wie einmalig sensationell dieser Eindruck wäre. An Geld mangelte es Giorgio schon damals nicht. Und so besorgte er, in seiner Begeisterung, für Dickie diese komplexe Apparatur, direkt aus der Garage von Garrett Brown.  

     Mir war sofort klar: Diesen Mann mit seinem sagenhaften Gerät will ich! Und wir wollten gemeinsam durch dick und dünn gehen – und dies möglichst steadicam-like schwebend. Die fixe Idee war, der Hauptfigur einen Partner mit auf den Weg zu geben. So als würde der Journalist Willi von einem Fotografen begleitet oder zumindest konstant beobachtet.  

     Damals war das System übrigens mit einer BL-Kamera noch über 42 Kilo schwer und hat vom Operator wirklich übermenschliche Kräfte abgefordert. Ein kaum nachvollziehbarer Balanceakt zwischen Gewichtheber-Weltmeisterschaft und Tanzwettbewerb. Vor Dickies Leistung gehe ich noch heute in die Knie.  

     Trotzdem wußte ich damals noch nicht, daß ich mit dem Einsatz des Steadicam meine ersten Schritte machen sollte in Richtung elektronisches Bild – weg vom puristischen, fast gottgegebenen ‹Zelluloid›. Oder wie es ansonsten chemisch inzwischen wirklich heißen mag. Jedenfalls ist es längst nicht mehr explosiv. Was man sich bei den Filmen selbst durchaus häufiger wieder wünschen würde.  


Nacht/Außen-Innen  

Wir waren jedenfalls ausgesprochen zufrieden mit dem Drehtag an der Grenze – und mit der ungeahnten Ausbeute. Das war noch einmal voller Einsatz von West wie Ost. Überhaupt, was hat man immer wieder ‹östlicherseits› nicht alles veranstaltet, um uns die gesamten Dreharbeiten über zu begleiten. Immer, wenn wir an der Grenze zu Gange waren, tauchten sehr schnell die so genannten Grenzaufklärer auf. Und immer waren sie am Fotografieren oder Filmen, als könnte man uns westliche Filmer damit in irgendeiner Weise beeindrucken. Trotz bedrohlicher Positur und ellenlangen Pentacon-Teleobjektiven. In manche Szenen haben wir sie so natürlich auch eingebaut. Dann und wann revanchierte man sich allerdings mit schrillem Rückkopplungspfeifen mittels Megaphon. Und damit konnte man uns wirklich nerven, drehten wir doch mit O-Ton.  

     Die Nacht war unruhig. Ich lag lange wach: Was waren das eigentlich für Störstrahlen, die den Monitor des Steadicam immer wieder flackern ließen, vor allem dann, wenn wir der Stasi-Station auf dem Heldrastein besonders nahe kamen? Was können diese Strahlungen aber vor allem für Auswirkungen auf das chemische Filmmaterial haben? Wie war das denn wieder mit diesem so genannten EMP? Ein elektromagnetischer Entladungsimpuls, der sogar als Waffe eingesetzt werden kann. (Man bedenke heute: Waren nicht alle Tschernobyl-Bilder und -Filme der 1. Stunde verstrahlt und teilweise sogar völlig geschwärzt?)  


MorgenGRAUEN/Innen   

Das Telefon kam sehr früh. «Hier spricht das Kopierwerk: Leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß sämtliche Aufnahmen ihres gestrigen Drehtages heute Nacht verstorben sind!»  

     Was!? «Ja, nicht einmal mehr für die Kammfabrik geeignet», wie man in jeder Hinsicht mißglückte Aufnahmen grausam klassifizieren konnte. Dieser blöde Spruch half aber auch nicht mehr weiter. Angeblich hatte ein Volontär wegen einer „Leberkäs-Brotzeit“ seinen Platz an der Entwicklungsmaschine verlassen!  

     Der Schock führte zu einer regelrechten Lähmung, Verzweiflung stieg hoch. Alles nochmals drehen? Unmöglich! Die Grenztruppen jedenfalls werden nicht noch einmal Krieg spielen wollen. Und sich noch mal blamieren.  

     Klar, der englische Versicherer wollte es natürlich nicht glauben, reiste sogar an. Wohl geprägt von der Erfahrung, daß sich bei knappen Budgets die Negativschäden irgendwie häufen. Als wir dann aber die Büchsen öffneten und darin jeweils eine sich in Auflösung befindliche staubige schwarze Schnecke sichtbar wurde, schwiegen auch diese ‹Gentlemen›.  

     Ja, natürlich haben wir den Drehtag wiederholt, hat die Versicherung dann bezahlt. Aber das war klar: Eine zweite Chance hat uns die DDR nicht mehr gegeben. Man blieb unsichtbar, nicht einmal einen NVA-Trabi wollte man uns noch gönnen... Die restlichen Drehtage waren wie unter einem Schleier. Wir konnten einfach nicht verstehen, warum man uns so etwas antun konnte.  

     Egal, welche Erkenntnisse man noch zu haben glaubt, ich jedenfalls werde einfach das Gefühl nicht los, daß beim WILLI-BUSCH-REPORT in irgendeiner Weise eben doch die Stasi ihre Hände im Spiel gehabt haben muß. Aber wie? Soll man die mysteriösen Strahlungen des Heldrastein untersuchen oder nachts im Kopierwerk auflauern? Der damals harmlosen Feststellung eines Mitarbeiters, daß dieser ‹Negativtod› – egal wer nun die Schuld dafür trägt – mit Sicherheit meinen ‹Video-Schwenk› enorm beschleunigt habe, sollte ich bald nicht mehr widersprechen.  


Tag/Innen  

1981 – Längst hatten wir uns nun ein eigenes Kopierwerk besorgt: Das waren zwei VHS-Recorder. Ein Standgerät und ein Portable inkl. Kamera, welche die Schärfe – damals das Nonplusultra – mittels Ultraschall berechnete! Gesamtpreis: DM 7.000,-- (inkl. Bändern). Man war begeistert. Nun hatten wir jederzeit Zutritt ins ‹Werk›. Wir konnten drehen und kopieren soviel wir wollten. Tag und Nacht, überall. Eine putzige, kleine Bildermanufaktur im Hinterhof! Noch nutzten wir sie erst einmal für Schauspieler-Proben, Motivsuche etc.  

   Im Nachhinein muß es etwas Provozierendes gehabt haben. Denn das nächste ‹Zelluloid-Projekt› mit dem Titel DER WESTEN LEUCHTET! thematisierte nämlich ausgerechnet die Welt der deutschen Geheimdienste!  

     Die Finanzierung machte beste Fortschritte, die Vorbereitungen auch. Tolle Besetzung, alles topp. Plötzlich heißt es Stopp! Wir fallen aus dem heiteren Himmel. Und sind voller Zorn. Mischen nun sogar zwei Geheimdienste mit? Lächerlich, aber irgendjemand wollte ja nun tatsächlich, daß dieser Film nie das Licht der Leinwand erblickt.  

Bereits nach 3 Wochen haben wir jedenfalls erst einmal eiskalt zurückgeschlagen. Ob nun aus Frust, Trotz oder schließlich dann vor allem aus Neugier, entstand ein VHS-Film dessen Titel bereits Programm war: ZEICHEN & WUNDER.  

     Die Produktionsmethode ist den Beteiligten jedenfalls in prägender Erinnerung geblieben. Es war eine in jeder Hinsicht befreiende Zeit. Obwohl es sich eigentlich um eine über 90 Minuten laufende Bildstörung handelt, ließ es sich bald nicht mehr verheimlichen, daß hier ein absoluter Kino-Fan ein Home-Movie auf VHS gemacht hatte. So drängte das Werk ohne unser großes Zutun unerbittlich an die Öffentlichkeit.  

     Ein halbes Jahr später lief dieser kleine Katastrophen-Film auf 16mm umkopiert – man frage nicht wie! – auf der Berlinale. Und man kann sagen, daß das mächtige Delphi-Kino Kopf stand. War das nun Kino? Fernsehen? Oder beides? Jedenfalls hat das so gut funktioniert, daß schließlich das Bayerische Fernsehen sich traute, den Film sogar zwei Mal über die ‹legalen› Sender zu schicken. Mit der süffisanten Ankündigung, daß die fortgesetzten Bildstörungen ihre Ursache im Film hätten, und gewollt seien ... Gute Unterhaltung!  


Tag/Innen   

Plötzlich war das fehlende ‹Restgeld› für den WESTEN doch wieder da. Und die Dreharbeiten konnten beginnen. Aber was für eine ‹Last›: Nun drehte ich also doch wieder einen klassischen ‹Zelluloid-Film›, dessen Kosten sich nach dem Prinzip der Taxiuhr kumulieren. Als Erinnerung an die kurze und glückliche Videozeit hatte ich immerhin noch einen schönen Monitor hinüberretten können, der mir zwar wieder nur ein schlabberiges Schwarzweiß-Bild aus der ARRI BL zeigte. Aber immer noch besser als unter dem Tisch als Frosch die Schauspieler zu beobachten. Armin Mueller-Stahl fand absolut keinen Gefallen daran. Immer wieder bat er mich, doch nicht ständig auf diesen blöden Monitor zu starren, sondern auch mal wieder auf ihn leibhaftig.  

     Natürlich wußte auch der tschechische Tonmann längst, wie leicht ich auf so manche technisch-produktive Reize reagiere. Jedenfalls erzählte er mir von ganz besonderen englischen Mikro-Sendern, die in der BRD verboten seien, weil sie auf unerlaubten Frequenzen arbeiten würden – und dabei auch noch viel zu stark wären. Ich sah bereits die Peilwagen der damals sehr gestrengen Bundespost unseren Drehort einkreisen.  

     Besonders pikant wenn auf einem der ‹Schwarz-Sender› der gerade kürzlich aus der DDR übergesiedelte Mueller-Stahl lauter dubiose Geheimdienst-Texte rezitieren würde.  

Klar, daß ich mir ein solches Programm nicht entgehen lassen wollte. Jedenfalls arbeitete die Garderobiere diese ‹Wanzen› umgehend in die Kostüme ein. Wie man weiß haben Frauen tendenziell – zumindest in Filmen – zwar weniger an als Männer, aber auch bei ihnen gelang schließlich eine perfekte körpernahe Lösung ... Und tatsächlich: Diese Methode hat den Ausdruck des Films, hör- und spürbar, verstärkt. Die subversive Konspiration wurde sozusagen allgegenwärtig.  


Tag/Innen  

1982 – ZEICHEN & WUNDER hatte noch weitere, ungeahnte Folgen. Der schicksalhafte Anruf kam dieses Mal nicht aus einem Kopierwerk, sondern aus Luxemburg! Und dran war RTL! (Nein nein, nicht das, was man heute in Deutschland darunter versteht!)  

     Man fragte uns, ob wir Interesse hätten an einer Coproduktion, um experimentell die Möglichkeiten der professionellen Videotechnik fürs Kino auszuloten. Und da man dort durch ZEICHEN & WUNDER auf uns aufmerksam geworden war, glaubten wir RTL sofort richtig verstanden zu haben. Wir waren vom Blitz getroffen: ‹Elektronisiert›!  

     So standen wir bereits nur Tage später in Luxemburg auf der Matte. Und betraten ein Videostudio der Spitzenklasse. Wahrscheinlich europaweit das modernste. Und das Herz bildete ein eiskalter wohnzimmergroßer Raum, dessen rauschende Metallschränke alles unterstützten, was die anspruchsvollste digitale Bildverarbeitung damals leisten konnte. Uns blieb der Mund offen. Zudem in der Garage dann auch noch ein nagelneuer flunderartiger Citroën stand, die so genannte Ambulanz für studiounabhängige Außenaufnahmen.  

     Ein rollendes Mini-MAZ-Studio mit 1-Zoll-Spitzentechnik und allem was dazugehört. Später schrieb unser Bildingenieur treffend darüber: «Filme machen wie die Feuerwehr». Dieses Gefährt dürfen wir also tatsächlich benutzen so lange wir wollen – europaweit? Ja, aber unter einer Bedingung: Das Studio selbst steht uns nur nachts zur Verfügung ... Geschenkt, Super-Bedingungen. Und mit dieser Methode werde ich mich sogar wieder hinter die Kamera trauen. Klar hatte ich natürlich bereits auch den Plot für eine Geschichte parat: DIE FRAU OHNE KÖRPER UND DER PROJEKTIONIST. Bald brachen wir auf, ohne jegliches Drehbuch. Eine filmische Expedition – nur mit der Story an einer sehr langen ‹Line›! Den Tierfilmern ähnlich, die ja vor allem beobachten, wollten wir insbesondere herausfinden, was passiert, wenn Film und Video zusammen ins Bett gehen.  


Tag-Nacht/Außen-Innen  

1983 – Jedenfalls war alles Folgende dann so ungewöhnlich, daß über die Arbeiten ein 50-minütiges Making Of entstanden ist, mit dem – inzwischen ja fast historischen – Titel ABSCHIED VOM ZELLULOID?. Das anfängliche Fragezeichen haben die Autoren allerdings im Sendeband dann wieder gestrichen. Für sie hatte das schleichende, ganz ganz langsame Ende des chemischen Films damals bereits begonnen.  

     Und daß diese Ahnung auch in der Münchner Filmszene in der Luft lag, bewies uns eine ungewöhnliche Beobachtung eines Gastes des heute berühmt-berüchtigten Schwabinger Szene-Restaurants Romagna Antica. Kurz vor Sendebeginn der Dokumentation in der ARD hatte sich dieses gegen 23 Uhr nämlich geradezu schlagartig gelehrt.  


Tag/Innen  

Los Angeles – grade läuft hier um die Ecke Hollywoods der 35mm-Transfer unseres fertigen 1-Zoll-Masters der FRAU OHNE KÖRPER. Es zieht sich ganz schön hin. Man gebärdet sich, als wäre man ein Forschungsinstitut, das soeben die Formel für den neuen ‹Weltfilm› entdeckt hat. Mein Ingenieur und ich erhalten kaum Zwischenberichte. Die ersten Negativtests sehen aber dann doch erstaunlich gut aus. So wie wir sie eigentlich durch eine konsequente Messtechnik beim Aufzeichnen und Bearbeiten angestrebt hatten. Hochzufrieden genehmigen wir uns hoch über Los Angeles mehr als einen Drink.  

     Was dann allerdings mit den weiteren Positiv-Mustern passierte, war gar nicht mehr überzeugend. Als Kopierwerk war man nun erstaunlicherweise plötzlich überfordert. Immerhin wußten wir: Dieses Negativ ist das Beste was man zur Zeit auf diesem Planeten kriegen konnte. Also packten wir die 5 Büchsen.  


Tag/Innen  

Wieder in München war das Kopierproblem schnell gelöst. Wir wechselten erst einmal auf das grundsätzlich sattere und steilere FUJI und dann gabs noch einmal eine neue Lichtbestimmung. Jedenfalls, die ‹Vorführung Nr. 1› des Bavaria-Kopierwerks war selten so besetzt wie zur Abnahme der FRAU OHNE KÖRPER UND DER PROJEKTIONIST. Man war zunehmend beeindruckt – und irritiert. Diese Bild-Qualität hatte man nicht erwartet.  


Tag/Innen-Außen-Innen

Berlinale 1984 – Wettbewerb-Sondervorführung der FRAU. Die Uraufführung. Das große Kino ist zu klein. Die Stimmung ist angespannt, unruhig. Manche der Zuschauer kamen nicht zuletzt wegen der kurz zuvor gesendeten Dokumentation über die Dreharbeiten. Nun sollte also das fertige Produkt begutachtet werden. Vor allem von den vielen Profis im Publikum: Ja – Nein – Vielleicht doch?  

     Als das Licht wieder anging, war zumindest ich in den Augen so mancher Zuschauer zu einem anderen Menschen mutiert. Ist aus einem, der immer das Kino konsequent hochgehalten hat, nun ein Verräter geworden? Denn schon im Foyer spürte ich bei manchem Händedruck eine gewisse Abkühlung. Sind die Grüße nun plötzlich flüchtiger geworden? Sehr indifferent alles.  

     Zwar war auch die nachfolgende Pressekonferenz ebenso überfüllt, aber man weiß ja: Mit einem gut funktionierenden Mikro hat man bereits ein wesentliches Argument in der Hand. Und wenn dann die Schauspieler auch noch von der so einmalig produktiven ‹reflektierenden› Arbeitsweise sprechen, dann wundert man sich nicht mehr, wenn die Stimmung ganz langsam wieder zurück pendelt.  

     Noch Wochen später erhielt ich so manche Anfrage, als wäre ich ein Callcenter in Sachen Videoproduktion. Aber ich erinnere mich auch an weinende Cutterinnen, die bereits ihre Arbeitslosigkeit heraufkommen sahen – um nur wenige Jahre später dann allerdings zu den glühendsten Verfechterinnen des so genannten Editing geworden zu sein. Aber auch an Kollegen und Kritiker, die mir sozusagen kondolierten und Abschied nahmen von einem geschätzten Kino-Regisseur.  


Tag/Innen   

1984 – Rom – Eigentlich hat niemand so richtig daran geglaubt, daß ER wirklich kommen würde. Soll er doch, was öffentliche Veranstaltungen betrifft, noch zurückhaltender geworden sein. Im Goethe-Institut Rom hatte man jedenfalls die Idee, anläßlich einer Tour mit der FRAU OHNE KÖRPER, auch eine Diskussion zu veranstalten. Thema Elektronisches Kino. Und man hoffte, IHN mit diesem besonderen Thema besonders zu locken.  

     Gerade wollte nun die bereits versammelte Runde ohne den geheimnisvollen Teilnehmer loslegen, als ER dann tatsächlich doch kam. Ein großer, hagerer, eleganter, leiser Mann: Antonioni betrat den Raum und steuerte direkt auf mich zu. Mir schießt ins Gedächtnis wie ich damals als 16-jähriger noch tiefer in den Kinosessel rutschte als sich die Leinwand öffnete, und ich erstmals über die ganze Breite den Namen las:  

M I C H E L A N G E L O  A N T O N I O N I .

     Sofort entspann sich eine lebhafte Diskussion, was das denn nun alles zu bedeuten habe. Das Publikum war erstaunt, daß sich auch Antonioni längst schon mit dem Elektronischen Kino beschäftigte und daß sich so bald ein vertrauliches Gespräch zwischen zwei neugierigen Machern entwickelte. Daß man unter anderem nun auch keine Wiesen und Häuser mehr bemalen mußte, so wie es Antonioni noch getan hatte, leuchtete ja nun jedem ein. Es war eigentlich nicht neu, was man vielleicht als Resultat dieser Veranstaltung mit nach Hause nehmen konnte:  

     Mit 24 Bildern in der Sekunde zu fotografieren, um mechanisch daraus eine Bewegung darzustellen, hat jedenfalls kaum mehr was mit einer Welt zu tun, deren Bewohner bereits auf dem Mond waren – und längst in der Lage sind, milliardenfach bewegte Bilder jeglicher Art um den Globus zu jagen.  


Tag/Außen  

Weiterhin 1984 – Seit dem sagenumwobenen ‹Negativtod› sind nun bereits 5 Jahre vergangen. Und die Stasi spukt immer noch in den Köpfen herum. Aber klarer denn je ist auch die Tatsache, daß ich für den so genannten Videoschwenk wohl ebenso dem Steadicam begegnen mußte, welches rein konstruktionsmäßig ohne Videoausspiegelung ja gar nicht funktionieren konnte. Gemeinsam mit dem Kameramann war ich auf angenehme Weise wochenlang gezwungen, auf eben diese Steadicam-Bilder zu glotzen. Eine Infiltration ohnegleichen. Ach ja: Überhaupt 1984 – grüßt hier Orwell doch noch?   

     Coppola war es ja wohl, der erstmals vom Electronic Cinema sprach und bereits zu produzieren begann. Bald nämlich würden so elektronische Bilderfabriken via Satellit weltweit Filmpaläste in London, Sao Paulo und ebenso das kleinste Dorfkino in Indien ‹bespielen›. Adieu Zelluloid!  

     Im Nachhinein ist so wohl auch mein wirklich sehr kurzer Ausflug ins Kabelfernsehen zu verstehen. Das Studio der VISUAL-Film lag nämlich direkt im Schatten des neuen hoch aufragenden Europäischen Patentamtes in München. Dieser Gebäudeschatten bescherte allerdings einem ganzen Stadtteil nur noch ‹Geister-Fernsehbilder› – à la ZEICHEN & WUNDER. In aller Eile entschloß man sich, genau hier eines der ersten ‹offenen› Kabelfernsehversuchsgebiete einzurichten. Bald gab es eine ganze Liste der dubiosesten potentiellen Betreiber, auch Franz Beckenbauer war übrigens dabei.  

     Also erwarben auch wir zusammen mit Freunden eine solche Sendelizenz. Als erstes stand für unseren Kanal bereits eine ‹Erfindershow› auf dem Plan. Diese sollte wöchentlich direkt aus dem neuen Patentamt berichten. Man hätte das Kabel vom VISUAL-Studio ja nur über die Mauer werfen müssen. Auch eine ‹Insel-Show› war in der ‹Pipeline›... Wir hatten jedenfalls das sichere Gefühl, daß es höchste Zeit war, sich in diesen neuen Schaltkreisen einzunisten. Motto: «Jeder kann ein Sender sein!»  

     Heute wissen wir, daß nur einer wie Alexander Kluge politisch und strategisch auf Dauer der weiteren Entwicklung in Deutschland gewachsen war. Und noch immer kann man via RTL, Sat1, VOX – und bis vor kurzem auch auf XXP – seine damals eroberten Inseln besichtigen. Alle Achtung!  


Nacht/Innen   

Wie hat man uns damals ungläubig angeguckt, als wir von unserem Plan sprachen, praktisch einen ganzen Film namens RHEINGOLD im fahrplanmäßig fahrenden Trans-Europ-Express zu realisieren. Heute steht fest, daß gerade diese Produktionsmethode entscheidend dazu beigetragen hat, daß sich RHEINGOLD nicht nur als Eisenbahnfilm über die Jahre zum Kultfilm entwickelt hat.  

     Es muß an dieser unauslöschlichen geradezu positiv-traumatischen Erfahrung mit dem RHEINGOLD-Dreh liegen, daß ich noch eine weitere ‹Zugproduktion› plante. Nun war ein Nachtzug dran. Eine schlaflose Reise im Schlafwagen von Hamburg nach München. In einer selbst gewählten totalen räumlichen Beschränkung sollte nun mit elektronischen Mitteln weitergeforscht werden. Völlig autark, nun allerdings mit dem Kopierwerk gleich im Nebenabteil. Wie bei RHEINGOLD gab es auch wieder einen so genannten Filmwaggon, der für jede Fahrt an den regulären Zug angehängt wurde.  

     Ein wirklich rasendes Nachtstudio mit Aggregat, Garderobe, MAZ-Raum – wieder mit 1-Zoll-Format natürlich. Abteile zum Ausruhen usw. Alles nur eben noch perfekter als bei RHEINGOLD. So konnten u.a. die verschiedenen Lichtsituationen des Drehabteils auf Knopfdruck jederzeit verändert werden. Vorausgegangen waren regelrechte Testreihen zur Definition der jeweiligen meßtechnischen Werte des Videobildes, inklusive der individuellen Lichtführung für die beiden Hauptdarstellerinnen. Aber auch die Tonführung und die Mikros waren dran, wollte ich doch im Sinne einer ‹Mitternachts-Talkshow› unbedingt in O-Ton drehen. Schnell war dabei auch klar, daß wir den Ton – und das Bild mit TC-Insert als ‹Gratis-Zugabe› – durchgehend mit einem der gerade raus gekommenen neuen VHSHifi -Recorder festhalten wollen. Dafür hatte unser Ingenieur die Längstonspur irgendwie timecodefähig gemacht. So daß diese später dann den Takt des Editing vorgeben konnte. Ganz nebenbei ist so auch ein bestimmt 200 Stunden langes Protokoll der gesamten Dreharbeiten entstanden.  

     Aber die Stufen der Realisierung haben mit der Elektronik noch eine ganz andere, entscheidende Erweiterung erfahren: Bevor wir zur ersten realen Fahrt aufbrachen, wurde der gesamte Film in allen Details mit VHS in einem 1:1-Nachbau des Schlafwagen-Abteils erarbeitet. Einstellung für Einstellung, Satz für Satz. Bis es den Film dann schließlich in einer sog. Arbeitsversion gab. So als hätte man ein Theaterstück erprobt. Aber dann wurde es ernst.  

     Die zwei Hauptdarstellerinnen, ich als Regisseur – und wieder als Video-Kameramann – ließen uns also regelmäßig in dieses Spielabteil einschließen. Inklusive unserer ‹Bezugsperson› – der Kamera. Sie wurde erst einmal einfach wieder ins ‹Spinnennetz› eingehängt – und harrte baumelnd der Dinge. Eine Eigenkonstruktion, die zur organischen Stabilisierung diente, aber trotzdem auf engstem Raum eine extreme Führung des Bildes erlaubte. Da in andere Abteile natürlich Bild und Ton übertragen wurden, war das gesamte Team so voll an einem komplexen Prozeß beteiligt, der konstant mehrere Bewegungen gleichzeitig bedeutete. Ein wirklich interaktives Spiel auf höchstem Level.  

     Ein Jahr später stand der Nachtzug von Hamburg nach München wieder bereit. Jetzt wird die Fahrt aber eine rein virtuelle sein: DORMIRE war nun fertig. Mit einigen Mühen gelang es uns damals schließlich, einen Münchner Kinobetreiber zu einem Experiment zu überreden und einen damals noch sehr gewichtigen 3-Röhren-Videobeamer an die Kinodecke zu hängen. Ein Studio-1-Zoll-Zuspieler (drunter ging es natürlich nicht!), der nun provokant neben den beiden arbeitslosen Filmprojektoren stand, lieferte ein außerordentliches Bild – die Kinoleinwand hat es ohne Murren auch zurückgeworfen. DORMIRE fuhr so jeden Abend pünktlich um 23 Uhr los. Und soll so manch verschlafenen Kinozuschauer wieder aufgeweckt haben.  


Tag/Außen-Innen  

1987 – Der nächste Schritt war wirklich logisch. Nun war es soweit. Die Film-Kamera war zwar noch ein weiteres Mal eine optisch-chemisch aufzeichnende. Alles andere drehte sich aber nun um jene Pixel, die man gemeinhin als kleinste digitale Bildinformation bezeichnet. Nun sollte DER ATEM – mit allem was dazugehört die bisher größte inhaltliche Herausforderung werden, für wirklich alle Beteiligten – inkl. Anwälten. Aber davon später.  

     Eine Geschichte, die genau diese Schnittpunkte treffen wollte: Erinnerung, Realität, Fiktion. Der Plot – übrigens von Herbert W. Franke, für mich immer noch DER deutsche SF-Autor: Genialer Programmierer wird zusammen mit seiner Schwester in seiner Jugend entführt. Die Schwester ist dabei zu Tode gekommen. 20 Jahre später gelingt es dem Bruder, das in seinem Gedächtnis gespeicherte von einer Strumpfmaske verzerrte Bild des Entführers in den leistungsfähigsten Rechner der Welt zu transferieren, zu entzerren und altern zu lassen. Bald steht fest, daß der Mörder lebt – und zwar direkt um die Ecke!  

     Die Branche der digitalen Bildgenerierung war damals in einer regelrechten Goldgräberstimmung. Klar, daß das im Aufbau befindliche SUPER-Videostudio (Name geändert) für unser Vorhaben sofort Feuer und Flamme war. Bietet ein solches Projekt doch alles, um sich schnell zu profilieren. Aber so gut wie alles lief schief.  

     Im Nachhinein ist man immer klüger. Vielleicht hätten wir sogleich Alarm schlagen sollen, als uns bei einem ersten ‹SUPER-Demoband› eine fliegende Cola-Flasche begegnete, die wir bereits wenige Tage zuvor im Band eines Konkurrenten gesichtet hatten. Auch die Tatsache, daß die Urheber – und vor allem die verwendeten Rechnersysteme einer wirklich imposanten virtuellen Landschaft – nie dingfest gemacht werden konnten, hätte uns weiter stutzig machen sollen.  

     Unerbittlich lief der Countdown. Trotz wunderschöner Storyboards kamen die Zwischenresultate der alles entscheidenden Sequenzen – nämlich die Hochrechnung eines Gesichts – eigentlich nie über eine ‹Kartoffel› hinaus. Wir waren bald in ganz Europa unterwegs auf der Suche nach Alternativen. Bis wir Rettung fanden – ausgerechnet in Ottobrunn bei München! Genau hier nämlich arbeitete in einem Keller ein Programmierer, der ein Seelenverwandter unseres Film-Protagonisten sein mußte. Trotz allem aber blieb uns nichts anderes übrig, als die Dreharbeiten in zwei Teile zu trennen. Und in der Not – die sich allerdings dann aber wieder als äußerst produktiv erwies – waren wir plötzlich wieder auf uralte Filmtricks angewiesen. Dem Genie Eugen Schüfftan sei Dank.  


Nacht/Innen   

Der Nachspann zum Film sollte allerdings noch zwei weitere Jahre dauern. Denn eines Tages flatterte völlig überraschend und ebenso dreist der VISUAL-Film eine ‹SUPER-Rechnung› für angeblich gelieferte ‹Virtuelle Ware› für den Film DER ATEM ins Haus. Will man die Jahresbilanz noch etwas aufbessern, oder ist es die Reaktion darauf, daß der Film in Venedig seine erfolgreiche Uraufführung erlebt hatte? Und zwar ohne ein einziges SUPER-Studio-Bildchen?  

     Ein handfester umfangreicher Rechtsstreit entstand, bei dem es um ‹Virtuelle Leistung› ging, um Pixel, Kartoffelgesichter, Strumpfmasken, um Rechenzeiten, Rechnerleistungen, ‹Perspektivische Hochrechnungen› – und um simplen Bluff. Schließlich beim Oberlandesgericht gelandet, ist das dort im Sinne der VISUAL-Film gesprochene Urteil jedenfalls in die Rechtsprechung eingegangen (Aktenzeichen XY).  


Außen/Tag  

1989 – Am 12.November sollte ich an der selben Stelle stehen, wo wir im tiefsten Kalten Krieg unsere so unterschiedlichen ‹Film-Schlachten› für WILLI BUSCH geschlagen hatten. Wir trauten unseren Augen kaum. Aber tatsächlich waren bereits westliche Bulldozer dabei – im Auftrag der DDR-Grenztruppen natürlich – die Grenzanlagen nieder zu reißen! Unfaßbar! Ich natürlich mitten drin, mit der gerade organisierten neuen Hi8-Kamera. Genau hier also geht es nun los, da wo vor 10 Jahren ein Film endete, der inzwischen ohne Zweifel Furore gemacht hat. Und zwar nicht nur weil es der einzige Film ist, in dem tatsächlich die Wiedervereinigung geweissagt wird, und auch nicht, weil es sich beim WILLI-BUSCH-REPORT um DEN ‹Kabinenrollerfilm› handelt oder gar um den ersten deutschen Steadicam-Film. Er muß wohl noch so manch anderes transportieren...  


Nacht/Innen  

Und plötzlich war der Gedanke wieder da. Saß vielleicht sogar jahrelang ein richtiger IM – Deckname ‹ORWO› zum Beispiel – im Kopierwerk und hat in der besagten Nacht unser Negativ einfach chemisch eliminiert? War es vielleicht sein grundsätzlicher Auftrag unerwünschtes, die DDR schädigendes Material dort konsequent ‹auszusortieren›? Es ist ja nicht ganz unbekannt, daß jedenfalls im Ostblock die Kopierwerke auch als perfekte Zensurbehörden funktionierten.  

     Nichts mehr ist unmöglich. Bald habe ich so meine erste Anfrage auf Akteneinsicht beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gestellt: Bescheid Negativ. Vielleicht hat ja eine besonders fleißige Dienststelle in Eisenach, deren Reißwölfe noch nicht durchgebrannt waren, auch die Akte ‹Willi Busch› ebenso eilig ‹verfüttert›. Wie uns ehemalige Grenzsoldaten berichteten, sollen unsere Filmarbeiten ja doch zu den ungewöhnlichsten Höhepunkten der jahrzehntelangen Grenzbewachung im Werratal gezählt haben. Aber so mancher Grenzer befürchtete ja selbst aus der Realität zu verschwinden.  

     Immerhin, wir hatten für sie noch eine ganz besondere ‹Arbeitsbeschaffungsmaßnahme›, die noch ein paar Monate Verlängerung bedeutete. Ihr Auftrag lautete nun: «Bewachung und Schutz der Grenzanlagen vor Vandalismus und unkontrolliertem Abriß». Auf den ausgetauschten Warnschildern stand jetzt: «Bitte nicht beschädigen! Hier entsteht demnächst ein historischer Film».  

     DEUTSCHFIEBER, die von der Historie ausgelöste Fortsetzung des WILLI-BUSCH-REPORT, wird das monströse Bauwerk ein letztes Mal nutzen. Danach gibt es die weltgrößte Kulisse nur noch als historisches Abbild – oder als digitale Rekonstruktion.  


Innen/Tag  

2006 – Noch immer keine neuen Stasi-Nachrichten. Immer noch sind Berge von Material unsortiert, geschweige denn ausgewertet. Nicht mal ein unverfängliches Foto des Steadicam zum Beispiel ist aufgetaucht. Nicht mal ein Schnipsel aus den Beobachtungsfilmen. Heute werde ich ein weiteres Mal an die Beauftragte für die Stasi-Unterlagen schreiben. In Sachen ‹Willi Busch› und seinem IM ‹ORWO›. Irgendwie bin ich ja nun diesem ‹ORWO› fast ein wenig dankbar – und nicht nur wegen Antonioni.  

 

    

Erwähnte Filme:  

ABSCHIED VOM ZELLULOID (BRD 1984, Regie: Christian Bauer, Jörg Bundschuh, Kamera: Günter Handwerker) Format: U-matic HB / 1:1.33 / Länge: 47:28  

AMERICAN GIGOLO (EIN MANN FÜR GEWISSE STUNDEN, USA 1980, Regie: Paul Schrader, Kamera: John Bailey) Format: 35mm / 1:1.85 / Länge: 117:00  

DER ATEM (BRD 1987/89, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Bernd Neubauer, Thomas Meyer) Format: 35mm / 1:1.85 / Länge: 119:44  

DEUTSCHFIEBER (D 1991/92, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Frank Grunert) Format: 35mm / 1:1.85 / Länge: 126:23  

DORMIRE (BRD 1984, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Niklaus Schilling, Thomas Meyer) Format: Video / 1-Zoll C-Standard / 1:1.33 / Länge: 91:18  

DIE FRAU OHNE KÖRPER UND DER PROJEKTIONIST (BRD 1983, Regie, Kamera: Niklaus Schilling) Format: Video / 1-Zoll C-Standard - Transfer auf 35mm / 1:1.37 / Länge: 105:06  

RHEINGOLD (BRD 1977, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Ernst Wild) Format: 35mm / 1:1.66 / Länge: 91:00  

DER WESTEN LEUCHTET! (BRD 1981/82, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Wolfgang Dickmann) Format: 35mm / 1:1.85 / Länge: 107:41  

DER WILLI-BUSCH-REPORT (BRD 1979, Regie: Niklaus Schilling, Kamera: Wolfgang Dickmann) Format: 35mm / 1:1.85 / Länge: 119:57  

ZEICHEN & WUNDER (BRD 1981, Regie, Kamera: Niklaus Schilling) Format: Video / VHS-Transfer auf 16mm / 1:1.37 / Länge: 94:20



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Der Willi-Busch-Report - Steadicam im Grenzeinsatz Rom 1984: Michelangelo Antonioni und Niklaus Schilling Abschied vom Zelluloid? (2008, Schüren-Verlag) Zeichen & Wunder Der Westen leuchtet! - Sender am Körper Dormire - Sabina Trooger, Niklaus Schilling, Sunnyi Melles Der Willi-Busch-Report - Der Drehort am Ende der westlichen Welt Die Frau ohne Körper... - Die "Ambulanz" steht bereit VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1 VISUALFilm - Texte 1



Berlinale 1982 - Internationales Forum des Jungen Films - Programmblatt


Aus gegebenem Anlass


Ernst Wendt angesichts von

ZEICHEN & WUNDER


Die Katastrophen, die wir erlebt haben, sahen - wenn wir sie überlebt haben - immer ganz anders aus, als man sie uns vorher geschildert hatte. Wir versorgten uns für einen Fall, der so nie eintrat. Wir waren deshalb immer unversorgt. Viele starben daran. Denn Katastrophen-Schutz war immer selektiv; wer überlebt und wie, das haben seit je nur die bestimmt, die zu den Katastrophen zu Tisch baten. Was heute 'Triage' genannt wird, die Übersetzung des Laissez-faire-Prinzips ins Medizinische, war ja schon zu Zeiten Florence Nightingales der zynische Gebrauch; die Gute wäre sonst zu keinem Ruhm gekommen.


Schillings Film handelt davon, dass eine Katastrophe sich inzwischen so wenig mehr wie irgendeine alltäglichere Wirklichkeit auch nur vorstellen lässt. Wir erfahren die Realität nur noch als Verlust, natürlich also auch die Katastrophe: der Weltuntergang ist, bevor er noch eine Chance hat, sich zu gestalten, schon von den Untergangs-Libretti der Medien vor-geschrieben. Deren Schein-Wirklichkeit bestimmt die Dramaturgie unseres täglichen Lebens; sie wären ja blöd, wenn sie darauf verzichten würden, ihre endgültige Erfüllung darin zu finden, uns auch noch den Untergang als ihr Happyend darzubieten. Ihr humaner Charakter besteht eben darin, dass sie uns bis zum Eintritt der tödlichen Katastrophe live dabei haben wollen. Wir würden vorher abschalten, stellte sich diesen Medien die Sinn-Frage. Da sie aber die Sinnesregung, die dazu nötig wäre, längst verstümmelt haben, bleiben wir fixiert auf das Bild, das sie sich von uns und für uns machen. Nur der Illusionist, der sich selbst etwas vormacht, bringt ja die Geste noch auf, mit einem Knopfdruck die Illusionen einzuschwärzen.


Das ist aber dann so, als steige er aus der Wirklichkeit aus, und dieses wird als kläglich beklagt. Er ist also eigentlich verrückt: wahnsinnig, weil er sich einbildet, seine eigene Einbildungskraft sei gegen die Kraft der in seine Sinne sich 'einbildenden' Surrogate noch etwas wert. Verkehrtes Leben: wer an den Simulationen rundum nicht teilnimmt, der gilt als krank, und wenn er sich dagegen wehrt, möglicherweise gar als Simulant dieser Krankheit.


Da helfen nur Märchen; schon die Beschreibung kann, außer in ohnmächtiger Theorie, nur im Märchen geleistet werden. So also im Film von Schilling: einem Medien-Märchen, das natürlich als Allererstes auch die Katastrophe märchenhaft besänftigt. Wenn es nur so schlimm wird, wie in diesem Energiekampf ums hitzeglühende Patentamt, und wenn es denn dunkel nur wird in der Vorstellung derer, die bei allzu heftigem Glühen Ängste entwickeln - dann sind wir ja noch im Reiche der Gebrüder Grimm, die zusammenfassen, welche Träume die Mütter den Kindern erzählen, um sie das Fürchten zu lehren, das sie nötig haben, den Herausforderungen des Realitätsprinzips wenigstens eine Gänsehaut entgegensetzen zu können.


Schlimmer wird's nicht, sagt dieser Film. Um mehr als da gehandelt wird, geht's doch auch gar nicht: ein paar Störungen, ein paar Gestörte, und eine Menge von Ruhiggestellten, versorgt vom Programm der laufenden Ereignisse, das für jede Störung ein Insert bereithält. Mittendrin werden noch Karrieren gemacht, denn nur an den extremen Situationen kann der Ehrgeiz sich scheuern, er sehnt sich also zur Katastrophe, und auch die zarte Menschlichkeit weiss, dass sie sich vor deren Hintergrund umso lieblicher entfalten kann.


So kommen alle, wenn nicht zu sich selbst, so doch zu ihrem Recht: die Macher, die Medien; die Tapferen und die Einsamen; die Psychologen und deren Opfer; die in den Sende- und die in den anderen Anstalten. Nicht wissend, dass sie Teil eines Märchens sind - jenes Märchens, das wir glauben müssen, sonst wär's ja die Wirklichkeit -, träumen sie unvereintvereint das Ende der Welt herbei.


Dieses muss nicht sein; aber gemach: - so kommt's.


München, 26.1.1982

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